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Enantiomer



  Enantiomere sind Stereoisomere chemischer Verbindungen, die in ihrer Konstitution übereinstimmen, sie besitzen also die gleiche Summenformel und die Atome sind in gleicher Weise miteinander verknüpft. Da Enantiomere in sämtlichen Stereozentren jeweils die entgegengesetzte Konfiguration besitzen, treten sie stets gepaart auf. Die räumlichen Strukturen eines Enantiomerenpaars verhalten sich zueinander exakt wie Bild und Spiegelbild. Daher nennt man sie auch Spiegelbildisomere. Es handelt sich dabei also um eine Form der Konfigurationsisomerie. Sie können, im Gegensatz zu Konformationsisomeren, nicht durch Drehung von Atombindungen zur Deckung gebracht werden.

Diese Art der Isomerie wird als Chiralität (Händigkeit) bezeichnet. Ein alltägliches Beispiel für ein Paar von Enantiomeren eines Stoffes, dessen Struktur in zwei räumlichen Varianten vorkommt, ist die „rechtsdrehende“ und „linksdrehende“ Milchsäure im Joghurt. Enantiomere haben immer in sämtlichen Stereozentren die entgegengesetzte Konfiguration. Dem gegenüber stehen die Diastereomere, bei denen immer mindestens ein Stereozentrum von mehreren gleich und mindestens eines verschieden ist (siehe dort).

Die Summenformel und die meisten physikalischen Eigenschaften, wie Schmelz- und Siedepunkte von Enantiomeren sind identisch. Sie unterscheiden sich in der optischen Aktivität, das bedeutet, dass sie die Polarisationsebene von linear polarisiertem Licht nach links oder rechts drehen. Man bezeichnet sie dann als linksdrehend oder rechtsdrehend.

Die beiden Enantiomere reagieren in solchen chemischen Reaktionen unterschiedlich, bei denen ein chirales Bezugssystem vorliegt und rufen bei Reaktionen in der organischen Chemie, insbesondere beim Einsatz als pharmakologische Wirkstoffe in Organismen, unterschiedliche Wirkungen hervor. Dies lässt sich mit einem Beispiel aus dem Alltag veranschaulichen mit dem Anziehen von Handschuhen: Es ist klar, dass nur der rechte Handschuh zur rechten Hand passt. Versucht man den rechten Handschuh auf die linke Hand zu ziehen, so wird man damit scheitern oder nur ein sehr dürftiges Ergebnis erzielen. Man erreicht also damit anstelle einer erwünschten Wirkung eine nutzlose oder schädliche und somit unerwünschte.

Bei der synthetischen Herstellung von unterschiedlich wirkenden enantiomeren Wirkstoffen etwa in der Pharmakologie versucht man heute, von vornherein nur noch das Enantiomer mit der gewünschten Wirkung herzustellen und als Wirksubstanz einzusetzen, während man das andere Enantiomer mit seiner möglicherweise unerwünschten Wirkung von Anfang an ausschließen möchte (Enantioselektive Synthese).

 

Inhaltsverzeichnis

Physikalische und Chemische Eigenschaften

Enantiomere unterscheiden sich nicht in ihren physikalischen Eigenschaften, mit Ausnahme ihrer optischen Aktivität. Auch ihre chemischen Eigenschaften sind identisch, bis auf ihr Reaktionsvermögen in stereoselektiven Reaktionen. Chemisch reine Enantiomere sind optisch aktiv, drehen also die Schwingungsebene des linear polarisierten Lichts im Uhrzeigersinn (rechtsdrehende Form) oder gegen den Uhrzeigersinn (linksdrehende Form).

 

R- und S- Sequenzregel

  • Enantiomere werden nach der R- und S- Sequenzregel eingestuft.
  • Um herauszufinden, ob ein Enantiomer als R oder S einzustufen ist, muss man alle Substituenten nach ihrer Priorität ordnen 1>2>3>4. Den Substituenten mit der niedrigsten Priorität (4) dreht man aus der Papierebene. Nun geht man von 1 über 2 nach 3.
  • Wenn die Richtung, in der man gehen muss, mit dem Uhrzeigersinn verläuft, ist das Enantiomer R.
  • Wenn die Richtung, in der man gehen muss, gegen den Uhrzeigersinn verläuft, ist das Enantiomer S.
  • Siehe auch: Cahn-Ingold-Prelog-Konvention für eine Erklärung, wie man die Substituenten in ihre Prioritäten einstuft.

Nomenklatur

Zu Unterscheidung der Enantiomere bedient man sich der CIP-Konvention (Cahn-Ingold-Prelog-Konvention, auch R-S-Nomenklatur), mit der die räumliche Anordnung der Substituenten beschrieben wird. Bei bestimmten Substanzklassen (Zucker, Aminosäuren) wird nach wie vor die ältere Fischer-Projektion (D-L-Nomenklatur) benutzt, die den Vorteil hat, dass die Bezeichnungen von verwandten Verbindungen gleich sind. Im Namen einer Verbindung kann man die Drehrichtung des Lichtes durch Voransetzen von „(+)-“ für rechtsdrehend beziehungsweise „(−)-“ für linksdrehend deutlich machen; z. B. (−)-Weinsäure oder (+)-Milchsäure.

Racemat

Ein Gemisch von (+)- und (–)-Form eines Stoffes, bei dem sich die optische Aktivität der einzelnen Stoffe ausgleicht, nennt man ein Racemat. Es ist optisch nicht aktiv und hat den Drehwinkel 0°, da sich die Anteile rechtsdrehender und linksdrehender Form gerade aufheben. Aus dem Verhältnis des gemessenen Drehwinkels zum maximalen Drehwinkel des reinen Enantiomers ergibt sich der so genannte Enantiomerenüberschuss (ee – enantiomeric excess) dieses Enantiomerengemisches.

Geschichte

Im Jahre 1848 gelang Louis Pasteur die Racematspaltung für die Enantiomere eines Salzes der D- und L-Weinsäure. Sie unterschieden sich für ihn lediglich darin, dass ihre Kristalle spiegelbildlich aufgebaut waren. Nach sorgfältiger Kristallisierung konnte er die verschiedenen Kristalle in mühevoller Handarbeit trennen und leitete damit die Erforschung der Enantiomerie ein. Auch bei der Zusammenführung von optischer Aktivität einer Substanz und der absoluten Konfiguration der Moleküle durch Bijvoet spielte die Weinsäure eine wichtige Rolle.

Conterganskandal

  Auf die unterschiedliche Wirkung von verschiedenen Enantiomeren der sonst selben Substanz ist die Öffentlichkeit durch den Contergan-Skandal aufmerksam geworden, da allein dem (S)-Thalidomid eine teratogene (fruchtschädigende), dem (R)-Thalidomid jedoch eine beruhigende Wirkung zugesprochen wurde. Die Herstellung des reinen (R)-Enatiomers hätte dieses Problem jedoch nicht lösen können, da sich die Enantiomere im Fall des Contergans in einem dynamischen chemischen Gleichgewicht befinden und leicht racemisiert werden. In wissenschaftlichen Studien ist bisher bei keinem der Enantiomere eindeutig eine teratogene bzw. beruhigende Wirkung erkannt worden (obwohl es bei ähnlichen Verbindungen Hinweise darauf gibt, dass tatsächlich das (S)-Enantiomer teratogen wirksamer ist). Selbst wenn nur eines der Enantiomere teratogen wirkte, wäre dies bedeutungslos, da die Substanz im Körper racemisiert. Obwohl dieser Sachverhalt schon seit Jahren bekannt ist, hat die Geschichte vom „bösen“ und vom „guten“ Thalidomid noch immer viele Anhänger und wird sogar in einigen renommierten Fachzeitschriften und Lehrbüchern weiterverbreitet. Thalidomid wird heute zur Behandlung von Lepra und AIDS verwendet.

Chemie

Asymmetrische Synthese

Bei chemischen Synthesen chiraler Stoffe entstehen meist beide Enantiomere im gleichen Verhältnis. Sie müssen aufwendig getrennt werden, um die Enantiomere als Reinstoff zu erhalten. Die Synthese enantiomerenreiner Moleküle gehört zu den schwierigsten Feldern der präparativen Organischen Chemie. Einen Ausweg bieten hier zahlreiche neuere Syntheseverfahren die zum Teil sehr große Enantioselektivitäten aufweisen. Um ein chirales Molekül aus nicht-chiralen Edukten zugänglich zu machen, wurden verschiedene Methoden entwickelt:

  • Verwendung chiraler Hilfsreagentien und Katalysatoren (z. B. chirale Phosphane)
  • Umsetzung mit Enzymen
  • Anbringung eines Auxiliars, das nach der Reaktion wieder entfernt werden kann
  • Überführen in Diastereomere (durch Anbringung eines enantiomerenreinen Substitutenten wie (−)-Strychnin) und deren Trennung (z. B. Kristallisation, Säulenchromatographie u. a.)

Die hierbei erreichte Enantiomerenreinheit ist oft unterschiedlich hoch. Als Maß für den Erfolg der asymmetrischen Synthese/Kristallisation wird der Enantiomerenüberschuss angegeben:

ee (%) = |(R-S)| / (R+S) * 100

Biochemie

Viele biologisch wichtige Substanzen sind chiral, nicht nur die kleineren Moleküle von Aminosäuren und Zuckern, sondern auch biologische Makromoleküle wie Enzyme oder Rezeptoren. Bei einigen Substanzklassen überwiegt oft ein Chiralitätssinn, so herrscht beispielsweise bei den natürlichen Aminosäuren die L-Form vor. Chiralität als Folge des räumlichen Baus von Molekülen hat entscheidende Bedeutung für das Funktionieren biologischer Systeme, die alle selbst chiral sind. So sind viele Enzymreaktionen auf ein Enantiomer, entweder das linksdrehende oder das rechtsdrehende, spezialisiert, die Reaktionsgeschwindigkeit mit dem spiegelbildlichen Enantiomer als Substrat ist dann deutlich geringer oder es wird gar nicht umgesetzt. Gar nicht so selten entfaltet das „falsche“ Enantiomer auch eine völlig andere biologische Wirkung. Beispielsweise schmeckt bei einer bestimmten Verbindung das eine Enantiomer süß, während sein Partner bitter ist. Bei zahlreichen Geruchsstoffen unterscheidet sich der Geruchseindruck hinsichtlich Intensität und Ausprägung. Auch bei manchen Pharmazeutika können solche Effekte auftreten. Bei einigen Betablockern wirkt das eine Enantiomer selektiv auf das Herz, das andere an den Zellmembranen des Auges. Enzymreaktionen sind oft spezifisch für bestimmte Enantiomere, da das aktive Zentrum eines Enzyms vielfach das eine Enantiomer leichter aufnehmen kann als das andere (Schlüssel-Schloss-Prinzip, Substratspezifität). Daher sind viele natürlich erzeugte Stoffe keine Racemate; die Biosynthese führt überwiegend oder ausschließlich zu einem Enantiomer. Daher sind beispielsweise fast alle Aminosäuren in Lebewesen linksdrehend.

Literatur

  • Adam Sobanski, Roland Schmieder, Fritz Vögtle: Topologische Stereochemie und Chiralität. In: Chemie in unserer Zeit. Jahrgang 34, Heft 3, 2000, S. 160-169, ISSN 0009-2851
  • Klaus Roth: Eine unendliche chemische Geschichte. In: Chemie in unserer Zeit. 2005, Heft 3, S. 212-218
  • W. H. de Camp: Chirality. 1989, S. 322 und 499
 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Enantiomer aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
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