Die Kerbwirkung entsteht an eingeschnittenen oder gekerbten Körpern, die auf Zug, Scherung oder Torsion belastet werden. Durch die Kerbe entstehen lokale Spannungsspitzen, welche die Festigkeit des Körpers mindern.
Weiteres empfehlenswertes Fachwissen
Technische Bedeutung
Die Kerbwirkung ist häufig unerwünscht, da sie Bauteile in technischen Anwendungen höher beansprucht, sodass diese, um ihre bestimmungsgemäße Lebensdauer zu erreichen, größer gebaut werden müssen oder ansonsten vorzeitig versagen. Andererseits wird die Kerbwirkung gezielt eingesetzt.
Gezielte Anwendung
- Entlastungskerben: Wenn Bauteile große Durchmesseränderungen haben, kann man Entlastungskerben einbringen, die den Übergang vom großen Durchmesser auf den kleinen Durchmesser elastischer machen.
- Um bei Überlastungen einen unvermeidbaren Bruch gezielt nur an einer bestimmten Stelle auftreten zu lassen, werden Kerben als Sollbruchstellen platziert. Bei der Konstruktion achtet man dann darauf, dass die Bruchstelle einfach erreichbar und das geschädigte Bauteil kostengünstig ersetzbar ist, sowie auch weitergehende Schadensrisiken vermieden werden.
- Verpackungen, wie z. B. Konservendosen oder Getränkedosen mit Aufreißlaschen oder Folienverpackungen werden mit vorgestanzten Kerben versehen, um das Öffnen zu erleichtern
Kerbwirkung als Störfaktor
Kerben, die zu einem unerwünschten Ausfall führen, können zahlreiche Ursachen haben:
- Viele natürliche Vorgänge hinterlassen Kerben, wie z. B. Rost an der Oberfläche von Stahlbauteilen. Bei solchen Konstruktionen wird so die Struktur geschwächt; bei fortschreitender Schädigung beendet dann ein Riss spontan die Tragfähigkeit.
- Die Kerbwirkung geht von rauen Oberflächen aus. Oftmals kann man ihr mit geglätteten oder polierten Oberflächen entgegenwirken.
- Einschlüsse im Körper, z. B. Lunker oder Graphit in Grauguss, wirken als Kerben.
- Die Art des Fügeverfahrens, z. B. Nieten statt Kleben, beeinflusst die Kerbwirkung an der Nahtstelle.
- Die Geometrie des Bauteils kann Kerbenwirkung hervor rufen, z. B. ein Wellenabsatz oder eine Änderung des Querschnitts bei rotationssymmetrischen (runden) Bauteilen.
Berechnung
Die Abschätzung der Kerbwirkung geschieht in der Konstruktion auf mehrere Arten:
- Einfache Probleme werden mit Vergleichszahlen abgeschätzt, welche den Werkstoff und die geometrischen Bedingungen berücksichtigen.
- Mit Hilfe der Finiten Elemente Methode (FEM) können Kerbwirkungen berechnet werden
Mechanismus
Die vier Bilder zeigen, wie die Kerbwirkung entsteht:
- Ausgangslage: Ein normaler Rundstab, der nicht belastet wird und eine zylindrische Form hat.
- Wird an den Enden eine Zugkraft längs der Bauteilachse aufgebracht, dann verlängert sich der Stab unter dem Einfluss der Zugkraft. Gleichzeitig zieht er sich quer zur Zugrichtung (rote Pfeile) zusammen (Querkontraktion). Wie sehr er sich in Querrichtung zusammenzieht, wird von der Querdehnungszahl (Poissonzahl) beschrieben.
- Schweißt man an den Rundstab eine Hülse an (gelb hinterlegt) und belastet ihn wiederum auf Zug, so ändert sich nichts Wesentliches an den Verhältnissen. Auch hier zieht sich der Stab in Querrichtung zusammen.
- Wenn allerdings die Hülse mit dem Rundstab über die gesamte Länge fest (stoffschlüssig) verbunden wäre oder — was von der Wirkung analog wäre — der Zugstab eingekerbt wird, ergeben sich zusätzliche Spannungen. Die gelb markierten Zonen werden von der Zugkraft in Längsrichtung nicht gedehnt, deshalb ziehen sie sich nicht in Querrichtung zusammen. Andererseits möchte sich das Kernmaterial (grau hinterlegt), welches die Zugkraft weiterleitet, nach innen zusammenziehen (rote Pfeile). Die gelb markierten Zonen sacken aber nicht nach und erzeugen statt dessen eine Querkraft, die nach außen gerichtet ist und das Kernmaterial an der Querkontraktion hindern will.
- Hier ist die Spannungsverteilung in einer Welle dargestellt, die auf Zug belastet wird. Die Spannungen verteilen sich einigermaßen gleichmäßig über den gesamten Querschnitt.
- Wählt man eine dickere Welle und versieht sie mit einem Einstich, sodass der Restquerschnitt den gleichen Durchmesser d hat, wie die vorige Welle, dann ergibt sich an den Übergangsstellen eine Spannungsüberhöhung. In dieser Situation entstehen nicht nur Zugspannungen in Längsrichtung, sondern die Kerbe erzeugt auch Zugspannungen in Querrichtung. Das tragende Kernmaterial wird zusätzlich belastet und der nun mehrachsige Spannungszustand führt zu lokalen Spannungsspitzen. Die Welle mit der Kerbe ist also weniger tragfähig als die ungekerbte, schmale Welle, obwohl sie eine größere Masse hat.
Nimmt man an, dass in Bild (4) der größte Durchmesser D und der engste Durchmesser d ist, dann reißt dieser gekerbte Stab bei geringeren Zugspannungen als ein Stab, der über die gesamte Länge nur den Durchmesser d hat.
Wie stark eine Kerbe die Spannung überhöht, hängt von mehreren Faktoren ab:
- Der Werkstoff kann besonders empfindlich sein, z. B. spröde Werkstoffe. Zähe (duktile) Werkstoffe hingegen können durch plastische Deformation (Fließen) die Kerbspannungen herabsetzen.
- Die Form der Kerbe: Spitze oder tiefe Kerben wirken stärker als gut ausgerundete oder flache Kerben.
- Die Art der Belastung, z. B. ruhend, schwellende Zugbelastung oder wechselnde Druck- und Zugbelastungen
Literatur
- Die wesentlichen Arbeiten auf dem Gebiet gehen von Heinz Neuber aus, der die erste Auflage seines Buches 1937 veröffentlichte. Die 3. Auflage von 1985 der Kerbspannungslehre - Theorie der Spannungskonzentration - Genaue Berechnung der Festigkeit liegt im Springer Verlag unter ISBN 3-540-13558-8 vor.
- DIN 743-2: Tragfähigkeitsberechnung von Wellen und Achsen - Teil 2: Formzahlen und Kerbwirkungszahlen.
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