Halbjahresbilanz für die chemisch-pharmazeutische Industrie fällt enttäuschend aus
Offensive 2030: Überbordende Bürokratie verringern, Genehmigungen beschleunigen
Die Produktion lag in den ersten sechs Monaten des Jahres 10,5 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Rechnet man das Pharmageschäft heraus, betrug der Produktionsrückgang sogar 16,5 Prozent. Mit durchschnittlich 77 Prozent waren die Kapazitäten nicht ausgelastet. Die Pharmaproduktion blieb im Vorjahresvergleich zwar stabil, aber auch hier zeigen sich bereits deutliche Bremsspuren.
Die Grundstoffsparten waren weiterhin zweistellig im Minus. Die Produktion anorganischer Grundstoffe lag rund 26 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Petrochemikalien (-21 Prozent) und Polymere (-19 Prozent) waren ebenfalls stark im Minus. Während die Produktion konsumnaher Chemikalien sowie von Hygiene und Oberflächenschutzmitteln kräftig gedrosselt wurde (-12 Prozent), fiel der Rückgang in der Produktion von Fein- und Spezialchemikalien mit -6 Prozent vergleichsweise niedrig aus.
Aufträge brechen ein
Die Auftragseingänge in der chemisch-pharmazeutischen Industrie gingen seit über einem Jahr nahezu kontinuierlich zurück, die Auftragspolster schmolzen dahin und der Branchenumsatz sank im In- und Ausland kräftig. Mit 114 Milliarden Euro verfehlten die Erlöse der chemisch-pharmazeutischen Industrie im ersten Halbjahr das Vorjahresniveau um 11,5 Prozent. Der Inlandsumsatz sank um 15,5 Prozent. Das Auslandsgeschäft ging mit -8,5 Prozent ebenfalls kräftig zurück.
Mit dem Umsatzrückgang im ersten Halbjahr geht die weiterhin schwierige Ertragslage der Unternehmen einher. Laut einer Mitgliederbefragung melden fast zwei Drittel der Unternehmen Gewinnrückgänge bis hin zu Verlusten. Zu der schlechten Ertragslage hat der hohe Preisdruck beigetragen. Denn trotz anhaltend hoher Produktionskosten kamen die Chemikalienpreise unter Druck. Insgesamt lagen sie im ersten Halbjahr aber immer noch 5 Prozent höher als ein Jahr zuvor.
Keine Hoffnungen für das zweite Halbjahr
Angesichts der schwachen Industriekonjunktur geht der VCI für das Gesamtjahr 2023 von einem Rückgang der Produktion von 8 Prozent aus. Rechnet man das Pharmageschäft heraus, dürfte die Chemieproduktion um 11 Prozent sinken. Bei insgesamt rückläufigen Preisen dürfte der Branchenumsatz insgesamt um 14 Prozent zurückgehen. Das Exportgeschäft (-12 Prozent) läuft dabei kaum besser als der inländische Absatz (-17 Prozent).
Die Herausforderungen für die Unternehmen sind groß. Dabei ist die konjunkturelle Flaute nicht das größte Problem. Sorgen bereiten auch die strukturellen Defizite des Standorts Deutschland, so die aktuelle Mitgliederbefragung. „Der Glaube an den Standort Deutschland schwindet. Wir sind keine notorischen Schwarzseher. Aber dieses Klumpenrisiko aus hohen Energiepreisen und Unternehmenssteuern, schlechter Infrastruktur, Fachkräftemangel, Digitalisierungsstau und Bürokratiewahnsinn raubt unseren Unternehmerinnen und Unternehmern die Zuversicht“, so Steilemann. Insbesondere die Energiekosten bewerten fast 90 Prozent der Unternehmen im internationalen Vergleich als schlecht beziehungsweise schlecht.
Kein Wunder: Die Chemieindustrie ist auf wettbewerbsfähige Strompreise angewiesen. Auch wenn die Stromkosten gesunken sind, liegen sie immer noch über dem Vorkrisenniveau und waren auch damals schon ein entscheidender Standortnachteil. „Deshalb kämpfen wir für einen Industriestrompreis als Brücke in die Zukunft, bis wir genügend Energie aus erneuerbaren Quellen haben. Denn nur so können wir im internationalen Wettbewerb bestehen“, so Steilemann.
Mit der geplanten Abschaffung des sogenannten Spitzenausgleichs kommen für die energieintensiven Industrieunternehmen weitere Probleme hinzu: etwa 1,5 Milliarden Euro pro Jahr mehr bei der Stromsteuer – eine zusätzliche Last für die ohnehin schon angeschlagene Industrie.
Deutschland verspielt seine Stärken
80 Prozent der Unternehmen bewerten laut VCI-Befragung den Bürokratie- und den Regulierungsaufwand als erheblichen Standortnachteil. Nie zuvor war dieser Wert so hoch. Bei vielen anderen Standortfaktoren, wie beispielsweise auch bei den Genehmigungsverfahren, sieht es ebenfalls düster aus. Das macht sich insbesondere beim Ausbau erneuerbarer Energien bemerkbar.
Letztendlich gefährdet die aktuelle Situation sowohl die Transformation zur Klimaneutralität als auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. „Wir sind der erste Dominostein, der wackelt. Wenn es uns am Anfang der Wertschöpfungskette schlecht geht, trifft es bald auch andere“, erklärt Markus Steilemann. Der Erhalt einer starken Chemiebranche in Deutschland ist notwendig, damit der Strukturwandel überhaupt gelingt. High-Tech-Chemikalien aus Deutschland sind die Enabling-Technologien beispielweise für Batterietechnik, aber auch für Chips und Halbleiter und für die Energie- und Mobilitätswende.
Politik muss handeln statt streiten
Die konjunkturellen und strukturellen Defizite des Standorts Deutschland sind nicht länger von der Hand zu weisen. „Deshalb muss die Koalition jetzt schnellstmöglich handeln, damit Deutschland nicht zum Abstiegskandidaten wird“, so Steilemann. Eine „Offensive 2030“ sollte den Industriestandort fit machen, sodass die deutsche Wirtschaft im globalen Wettbewerb um die Märkte der Zukunft bestehen kann.
Aus Sicht des VCI muss eine Reform dafür sorgen, dass
- Deutschland über eine sichere Energie- und Rohstoffversorgung sowie wettbewerbsfähige Preise für Strom und Gas verfügt.
- der Bürokratiewahnsinn ein Ende findet, um das notwendige Tempo bei Genehmigungsverfahren zu ermöglichen.
- eine nationale und europäische De-Regulierung erfolgt, die Freiraum schafft, um unternehmerische Lösungen für die anstehenden Herausforderungen zu finden.
- der Standort Deutschland für in- und ausländische Arbeitskräfte und Investoren sowie für heimische Produktion und Importe attraktiv ist.
- Deutschland wieder stärker die Europa