Eine Bremse für kreiselnde Moleküle

Die genaue Kontrolle über die Rotationstemperatur von Molekülionen eröffnet neue Möglichkeiten etwa für die Astrochemie im Labor

12.03.2014 - Deutschland

Chemische Reaktionen aus dem Weltall lassen sich künftig leichter auch auf der Erde untersuchen. Ein internationales Team, an dem Forscher der dänischen Universität Aarhus und des Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, hat einen effizienten und vielseitigen Weg gefunden, die Rotation von Molekülionen zu bremsen. Die Rotationsgeschwindigkeit der Teilchen entspricht einer bestimmten Rotationstemperatur. Die Forscher haben diese Temperatur der Moleküle mithilfe eines extrem verdünnten kühlenden Gases auf etwa minus 265 Grad Celsius gesenkt – ein Rekordwert. Von dem niedrigen Wert ausgehend können die Forscher die Temperatur bis zu minus 210 Grad Celsius dann gezielt einstellen. Die genaue Kontrolle über die Rotation der Moleküle ist nicht nur wichtig, um chemische Umwandlungen im All besser nachvollziehen zu können, sondern auch um etwa die quantenphysikalischen Aspekte der Photosynthese detaillierter zu verstehen oder um Molekülionen in der Quanteninformationstechnologie zu nutzen.

© J. R. Crespo/ O. O. Versolato / MPI für Kernphysik

Ionen in einem gasförmigen Kristall: Ein Wechselfeld zwischen stabförmigen Elektroden sperrt Magnesium- und Magnesiumhydrid-Ionen (rote Kugeln) in einer Falle ein. Mit einem Laserstrahl werden die Teilchen so weit gekühlt, dass sie zu einem Kristall erstarren, in dem die Abstände zwischen den Ionen deutlich größer sind als in einem mineralischen Kristall. Mit einem sehr verdünnten, kalten Heliumgas kann ein dänisch-deutsches Forscherteam die Rotation der Molekülionen bremsen (Kugeln links und rechts neben dem Ionenkristall).

© Alexander Gingell

Kühlung für einen Ionenkristall: Eine Wolke aus Magnesium- (blaue Kugeln) und Magnesiumhydrid-Ionen (blaue und grüne Kugeln) wird zwischen den vier zylindrischen Elektroden einer Paulfalle eingesperrt. Ein Laser, der in dieser Grafik als heller transparenter Streifen in der Bildmitte dargestellt ist, kühlt die Ionen, sodass sie zu einem Coulombkristall erstarren. Heliumatome (violette), die in die Falle strömen, bremsen bei Stößen mit Magnesiumhydrid-Ionen deren Rotation – die Rotationstemperatur sinkt.

© J. R. Crespo / O. O. Versolato / MPI für Kernphysik

In der Falle eingefroren: In die Paulfalle, die aus vier Elektroden besteht, strömen von hinten links kalte Heliumatome. Durch Stöße mit Teilchen des Ionenkristalls, der im Zentrum der Falle schwebt, bremsen die Edelgasatome die Drehung der Molekülionen und kühlen auf diese Weise deren Rotationstemperatur.

© J. R. Crespo/ O. O. Versolato / MPI für Kernphysik
© Alexander Gingell
© J. R. Crespo / O. O. Versolato / MPI für Kernphysik

Für Physiker ist kalt nicht gleich kalt. Denn die Physik kennt unterschiedliche Temperaturen, und zwar eine für jede Bewegungsmöglichkeit, die Teilchen haben. Wie schnell die Moleküle durch den Raum schwirren, bestimmt die translationale Temperatur. Sie entspricht weitgehend unserem alltäglichen Begriff von Temperatur. Aber auch für die inneren Schwingungen der Moleküle gibt es eine Temperatur, ebenso wie für ihre Drehbewegung um die eigene Achse. Wie bei einem Auto im Leerlauf, wirkt die Drehung des Motors nicht auf seine Bewegung, ehe die Kupplung die Kraft auf die Räder überträgt. Bei Molekülen koppeln die häufigen mikroskopischen Stöße der Teilchen in Gasen, Flüssigkeiten und Festkörpern die unterschiedlichen Bewegungsformen aneinander.

Mit der Zeit gleichen sich die verschiedenen Temperaturen daher aneinander an. Physiker sprechen davon, dass sich ein thermisches Gleichgewicht einstellt. Doch abhängig von der Häufigkeit der Stöße braucht das eben mehr oder weniger lange Zeit, und es dürfen keine Einflüsse von außen gegen das Gleichgewicht wirken. So kann die infrarote Strahlung, die bei der Kontraktion einer interstellaren Gaswolke entsteht, die Drehung von Molekülen anstoßen, während sich die Geschwindigkeit dieser Teilchen ansonsten kaum ändert. Prozesse dieser Art brauchen im Weltall sehr lange, da Kollisionen dort sehr rar sind.

Die Kühlmethode für die Rotationstemperatur ist schnell und vielseitig

In kosmischen Dimensionen spielt Zeit keine Rolle, bei physikalischen Experimenten dagegen schon. Zwar können Physiker die Flugbewegung von Molekülen relativ rasch so stark bremsen, dass deren translationale Temperatur fast bis zum absoluten Nullpunkt der Temperatur bei minus 273,15 Grad Celsius sinkt. Bis sich jedoch die Drehbewegung von nicht miteinander stoßenden Teilchen ähnlich weit abkühlen würde, vergingen mehrere Minuten oder Stunden, manche Experimente werden somit praktisch unmöglich. Das dürfte sich jetzt ändern.

„Wir haben die Rotationstemperatur von Molekülionen in Millisekunden abgekühlt, und zwar stärker als das bisher möglich war“, sagt José R. Crespo López-Urrutia, Gruppenleiter am Max-Planck-Instituts für Kernphysik. Die Forscher des Heidelberger Max-Planck-Instituts und der Universität Aarhus froren die Rotationsbewegung nun auf 7,5 Kelvin, das entspricht minus 265, 65 Grad Celsius. Doch damit nicht genug: „Mit unserer Methode können wir die Rotationstemperatur der Teilchen zwischen etwa sieben und 60 Kelvin gezielt einstellen, und wir können die Rotationstemperatur der Moleküle in unserer Probe messen“ erklärt Oscar Versolato, der seitens des Heidelberger Max-Planck-Instituts maßgeblich an den Experimenten beteiligt war. Zudem eignet sich die neue Kühlmethode anders als bisher praktizierte Verfahren für viele unterschiedliche Molekülionen.

Stöße mit kalten Heliumatomen bremsen die Drehung der Molekülionen

In der Falle kühlen die Physiker die Teilchen mit Laserstrahlen, deren Photonen vereinfacht gesprochen einen Druck auf die Magnesium-Ionen ausüben und diese so bremsen. Die Magnesium-Ionen wiederum kühlen die Magnesiumhydrid-Ionen mit. Auf diese Weise senkten die Forscher die translationale Temperatur der Wolke auf minus 273 Grad Celsius, bis einige 100 Teilchen zu einem regelmäßigen Coulomb-Kristall erstarren. Darin sind die Abstände der Teilchen anders als in den von Mineralien bekannten Kristallen sehr groß. Daher sind die Teilchen, die der Kühllaser zum Leuchten bringt, im Lichtmikroskop auf ihren fixen Positionen zu erkennen.

Um die Drehung der Molekülionen zu bremsen und somit die Rotationstemperatur zu erniedrigen, ließ das Team nun ein extrem verdünntes, kaltes Heliumgas in die Falle strömen. In dem Ionenkristall stoßen die gemächlich fliegenden Heliumatome mit den Magnesiumhydrid-Ionen zusammen, die Billionen Male pro Sekunde um sich selbst kreiseln. Durch die Stöße bremsen sie die Molekülionen allmählich ab. „Man kann sich das wie bei den Gezeiten vorstellen“, erklärt José Crespo: „Das rotierende Ion polarisiert das neutrale Heliumatom ein wenig, wie der Mond Ebbe und Flut erzeugt.“ Der Dipol, der so im Heliumatom entsteht, zerrt an dem drehenden Molekülion, sodass dieses ein wenig langsamer wird.

Die Heliumatomen vermitteln in dem Experiment gleichsam zwischen den verschiedenen Temperaturen, weil sie bei manchen Kollisionen mal translationale Bewegungsenergie an die Molekülionen abgeben und dafür bei anderen Kollisionen Rotationsenergie aufnehmen. Das nutzt das Team auch aus, um die Kreiselbewegung der Molekülionen anzuheizen. Voraussetzung dafür ist, dass sich die regelmäßige Mikrobewegung der gefangenen Teilchen im Raum verstärkt.

Über Form und Größe des Ionenkristalls lassen sich die Molekülionen heizen

Die Mikrobewegung der Molekülionen beschleunigen die Physiker, indem sie die Form und Größe des Ionenkristalls in der Falle variieren: Sie kneten gleichsam den Kristall mithilfe der Wechselspannung, die an den Elektroden der Falle anliegt. Das Wechselfeld, das die Elektroden erzeugen, hebt sich nur genau entlang der Achse im Fallenzentrum auf. Je weiter davon entfernt sich die Molekülionen befinden, desto stärker spüren sie die oszillierende Kraft des Feldes und desto heftiger wird ihre Mikrobewegung. Die Bewegungsenergie der wabernden Molekülionen nehmen die Heliumatome durch Stöße auf, schubsen damit ihrerseits die Kreiselbewegung der Ionen an und heizen so deren Rotationstemperatur.

Kontrolle über die Rotation der Molekülionen heißt für die deutsch-dänische Kollaboration aber nicht nur, die Drehgeschwindigkeit und mithin die Rotationstemperatur der Teilchen steuern zu können, sondern diese auch quantenmechanisch zu messen. Zu diesem Zweck nutzen sie aus, dass die Drehbewegung der Moleküle quantisiert ist. Anschaulich gesprochen heißt das: Die Quantenzustände eines Moleküls entsprechen gewissen Geschwindigkeiten seiner Rotation.

Bei sehr kalten Temperaturenbefinden sich die Moleküle nur in sehr wenigen Quantenzuständen. Die Moleküle eines Quantenzustandes entfernen die Forscher aus dem Kristall, und zwar mit Laserpulsen, deren Energie auf den jeweiligen Zustand abgestimmt ist. Wie viele Ionen dabei abhanden kommen, wieviele Ionen also den jeweiligen Quantenzustand einnahmen, ermitteln die Forscher anhand der Größe des verbleibenden Kristalls. Indem sie auf diese Weise einige wenige Quantenzustände abtasten, bestimmen sie die Rotationstemperatur der Molekülionen.

Für viele Experimente ist eine genaue Kontrolle der Quantenzustände nötig

„Die Rotationsbewegung und mithin den Quantenzustand der Molekülionen so exakt kontrollieren zu können, ist für viele Experimente wichtig“, sagt José Crespo. So können Wissenschaftler die chemischen Reaktionen, die im Weltall stattfinden, im Labor nur durchspielen, wenn sie die Reaktionspartner in dieselben Quantenzustände bringen können, in denen sie durch den interstellaren Raum treiben. Nur so lässt sich quantitativ nachvollziehen, wie Moleküle im All gebildet werden, und letztlich erklären, wie sich interstellare Wolken, die Brutstätten von Sternen und Planeten, physikalisch und chemisch entwickeln.

Der Geschwindigkeitsregler für rotierende Moleküle könnte aber auch dazu beitragen, die Quantenphysik der Fotosynthese besser zu verstehen. In der Fotosynthese sammeln Pflanzen mit dem Chlorophyll ihrer Blätter Sonnenlicht, mit dessen Energie letztlich Zucker und andere Moleküle aufgebaut werden. Bisher ist noch nicht ganz klar, wie die dafür nötige Energie innerhalb der Chlorophyll-Moleküle quantenphysikalisch übertragen wird. Um das zu verstehen, müssen Forscher wiederum die Quantenzustände und also auch die Rotation der beteiligten Moleküle sehr genau kontrollieren und vermessen. Die Erkenntnisse, die sie auf diese Weise gewinnen, könnten auch als Grundlage dienen, um die Fotosynthese künftig einmal für die Energieversorgung nachzuahmen oder zu optimieren.

Diese Kontrolle ist nicht zuletzt für Quantensimulationen und für manche Konzepte von universellen Quantenrechnungen gefragt. Bei Quantensimulationen ahmen Physiker ein Quantensystem, das sie kaum direkt untersuchen können, mit einem anderen Quantensystem nach, das sie sehr gut kennen und steuern können. In universellen Quantencomputern, die Physiker zu entwickeln versuchen, soll Information ausgesprochen schnell mithilfe der Quantenzustände von Teilchen verarbeitet werden; Moleküle sind dafür mögliche Kandidaten. Und ihre Chancen steigen nun, da sich auch ihre Drehbewegung quantenmechanisch kontrollieren lässt.

„Unsere Kühlmethode für die Rotation von Molekülen schafft auf ganz unterschiedlichen Gebieten neue Möglichkeiten“, sagt José Crespo. Auch sein Team wird die neue Methode nun nutzen, um Fragen der quantenmechanischen Welt zu erforschen.

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