Perspektivwechsel im Elektronengebirge
In Bismut gilt das gängige elektronische Modell für Metalle nicht
© MPI für Chemische Physik fester Stoffe
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Länge, Breite und Höhe können Physikern mehr über eine Materialprobe verraten, als nur deren Abmessungen. Denn wenn sich der Zustand eines Stoffs ändert, wirkt sich dies auch auf die Anordnung seiner Bestandteile aus. Wenn Wasser gefriert oder verdampft, ist das ganz offensichtlich: Im einen Fall ordnen sich seine Moleküle zu einem starren Gitter an, im andern Fall verflüchtigen sie sich als Gas. Klar, dass sich dabei auch das Volumen ändert.
Bei anderen Zustandsänderungen – Physiker sprechen von Phasenübergängen – bleibt ein Material zwar fest, seine Kristallstruktur dehnt sich aber aus oder zieht sich zusammen, etwa wenn ein äußeres Magnetfeld die Substanz magnetisiert. Allerdings ändern sich die Abmessungen einer Probe dabei nahezu unmerklich, wenn man solche Übergänge fast am Nullpunkt der Temperatur, also etwa bei minus 273 Grad Celsius untersucht. Genau in diesem Temperaturbereich arbeiten die Physiker am Max-Plack-Institut für Chemische Physik fester Stoffe für gewöhnlich, weil viele Phänomene, für die sie sich interessieren, nur bei derart tiefen Temperaturen auftreten. Um unter diesen Bedingungen zu messen, wie stark ein Kristall sich ausdehnt oder schrumpft, brauchen Physiker also ein sehr empfindliches Messgerät – genau das hat Robert Küchler in seiner Arbeit am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe entwickelt. Und damit hat ein deutsch-französisches Team um Robert Kuechler und Lucia Steinke, die ebenfalls am Dresdener Max-Planck-Institut forscht, nun im Metall Bismut eine Beobachtung gemacht, die sie einigermaßen überrascht hat.
Ein genaues Bild der elektronischen Energieverteilung
Die Physiker haben an einen Bismut-Kristall mit zwei Mal acht Millimetern Grundfläche in verschiedenen Richtungen ein Magnetfeld angelegt, das sie allmählich erhöhten. Wenn die magnetische Feldstärke steigt, ordnen sich die für den Ladungstransport verantwortlichen Elektronen um. Das hat zur Folge, dass sich das Volumen des Metalls etwas ändert und die Probe sich abwechselnd ausdehnt oder zusammenzieht.
Mit einem extrem empfindlichen Dilatometer, das die Ausdehnung einer Probe misst, bestimmten die Forscher die winzigen Änderungen der Länge bei den verschiedenen Orientierungen des Magnetfeldes. Von der Längenänderung der Probe schlossen sie dann auf Änderungen der Elektronenverteilung in der jeweiligen Richtung des Magnetfeldes und zeichneten von dieser eine Art Reliefkarte. Physiker sprechen davon, dass sie die Energieverteilung oder Energiestruktur der Elektronen als Funktion des Magnetfeldes bestimmen. „Wir haben diese Reliefkarte von Bismut, die zeigt, wie sich die Elektronenstruktur mit dem Magnetfeld ändert, genauer ausgemessen, als das mit anderen Methoden bisher möglich war“, sagt Robert Küchler.
In Bismut gibt es in der Energiestruktur drei identische Minima, sogenannte Täler, in denen sich die Elektronen ansammeln können. Ähnlich verteilen sich Elektronen auch in anderen Materialien, wie etwa dem Halbleiter Silizium, auf verschiedene Täler. Im Silizium äußert sich diese Energieverteilung der Elektronen in genau den Eigenschaften, die das Material für die Chipindustrie so interessant macht.
In einem reinen Bismutkristall würden Physiker erwarten, dass sich wie im Silizium in den energetisch gleichen Tälern gleich viele Elektronen finden. „Überraschenderweise verteilen sich die Elektronen in Bismut aber nicht komplett gleichmäßig auf die drei Täler“, erläutert Lucia Steinke. „Bei bestimmten Magnetfeldern, werden die Täler unterschiedlich gefüllt oder entleert, sodass sich in der Reliefkarte deutliche Asymmetrien ergeben.“
Bismut-Elektronen spüren sich stärker als bei Metallen üblich
Dass sich Elektronen in augenscheinlich identischen Tälern unterschiedlich verhalten, erwarten Physiker eigentlich für komplexere Materialien wie etwa Keramiken, die wie eine Schichttorte aufgebaut sind. Derzeit können die Dresdner Forscher noch nicht endgültig erklären, warum sich auch Bismut so verhält. Aber sie haben bereits einen Verdacht. Denn möglicherweise interagieren die Elektronen des Bismuts stärker miteinander als die Ladungsträger gewöhnlicher Metalle. Das würde bedeuten, dass die Vorstellung, die Physiker von der elektronischen Ordnung in Metallen haben, im Bismut nicht mehr greift.
Das gängige Modell betrachtet die Elektronen, die in Metallen für Glanz und Stromtransport sorgen, als einen See. Der See dieser Leitungselektronen umspült die Atomrümpfe. Jedes einzelne Elektron sieht in dieser Vorstellung nur ein elektrostatisches Feld, das sich aus der Mittelung über die anderen negativen Ladungsträger in dem See und die positiv geladenen Atomrümpfe ergibt. „Diese näherungsweise Beschreibung gilt für Bismut offenbar nicht, weil sich manche seiner Elektronen untereinander stärker wahrnehmen, als das Modell von Metallen vorsieht“, sagt Robert Küchler. Auch darin ähnelt das Metall also eher komplexen Materialien, wie etwa manchen Keramiken.
Eine neuartige Elektronik könnte die elektronische Energieverteilung nutzen
Die Entdeckung der ungewöhnlichen Eigenschaften von Bismut-Elektronen ist aber nicht die einzige Erkenntnis, die Robert Küchler und seine Kollegen in ihrer Arbeit gewonnen haben. „Wir haben gezeigt, dass sich unser sehr empfindliches Dilatometer auch eignet, um die elektronische Struktur von Materialien zu untersuchen“, sagt Robert Küchler, der das Präzisionsgerät inzwischen auch in einem Spin-off-Unternehmen vermarktet. So lässt sich damit etwa die elektronische Energieverteilung in Materialien untersuchen, bei denen sich die Verteilung der Elektronen auf die Täler wie beim Bismut mit der Perspektive ändert, sich zudem aber willkürlich manipulieren lässt. Solche Stoffe könnten für eine völlig neue Art der Elektronik interessant sein: die Valleytronic – deren Name sich aus dem englischen Wort valley für Tal und electronic zusammensetzt.
In der Valleytronic könnten der 0 und 1 eines Datenbits zwei verschiedene Verteilungen der Elektronen auf die Täler zugeordnet sein. Bei Rechnungen würden die Elektronen dann zwischen verschiedenen Tälern hin und her geschoben. Das besondere an den elektronischen Tälern als Rechenmittel: Sie könnten als Quantenbits dienen, aus denen sich Überlagerungszustände erzeugen lassen. Diese Mischzustände aus zwei oder mehr Tälern ermöglichen es, in einem Schritt deutlich mehr Rechenoperationen vorzunehmen, als das mit heute gängigen Computern möglich ist. Ein Quantencomputer, der so vorgeht, wäre bei manchen Aufgaben daher deutlich schneller als ein herkömmlicher. Bis es soweit ist, wird allerdings sicher noch einige Zeit vergehen. Das besonders präzise Dilatometer der Dresdner Wissenschaftler und ihre Forschung an Materialien mit ungewöhnlichen elektronischen Materialien könnten aber helfen, ein paar Hürden auf dem Weg zur Valleytronic zu nehmen.