Faltbar wie ein Akkordeon: Forschungsteam biegt einzelne Nanostrukturen
Siekmann/CAU
An neuen Materialien interessiert Wissenschaftler vor allem eines: Welche Eigenschaften haben sie und wie verhalten sie sich unter verschiedenen Bedingungen? Davon hängen auch die Einsatzmöglichkeiten der Materialien ab. „Um das gesamte mechanische Verhalten eines Materials vorhersagen zu können, müssen wir die Form der einzelnen Strukturen untersuchen, aus denen es aufgebaut ist“, erklärt Dr. Yogendra Mishra, Materialwissenschaftler in der Arbeitsgruppe Funktionale Nanomaterialien an der CAU. Aerographit ist aufgebaut aus Tetrapoden, kohlenstoffhaltigen 3D-Nanostrukturen, die aus vier, hohlförmigen Armen bestehen. Miteinander verbunden bilden sie ein poröses, extrem leichtes Netzwerk und bringen das Gewicht von Aerographit auf gerade einmal 0,2 Milligramm pro Kubikzentimeter. „Diese besondere Struktur verleiht dem Material eine hohe mechanische Stabilität und eine vergleichsweise große Oberfläche. Damit bekommt es spannende physikalische und chemische Eigenschaften“, sagt Daria Smazna, Doktorandin in dem Projekt.
Das internationale Forschungsteam unter Kieler Leitung konnte jetzt zeigen, dass Aerographit sogar extrem faltbar ist. „Normalerweise können Materialien wie Kohlenstoff oder Metalle nicht rückstandsfrei geknickt werden, aber aufgrund ihrer speziellen Struktur sind unsere Kohlenstoff-Netzwerke hoch flexibel und gleichzeitig mechanisch stabil“, erklärt Professor Rainer Adelung, Leiter der Arbeitsgruppe Funktionale Nanomaterialien. Vorstellen könne man sich das in etwa wie bei einem Bogen Papier. „Ein glattes Papier leistet keinen Widerstand, hält man es an einer Seite fest, hängt es einfach herunter. Rollen wir es aber zusammen oder zerknüllen es, bekommt es eine gewisse Festigkeit“, so der Materialwissenschaftler weiter. Es kommt also auf die geometrische Anordnung innerhalb des Materials an. Die besondere Form der Tetrapoden ließ die Forschenden vermuten, dass sie sich trotz der Leichtigkeit des Aerographits falten lassen könnten. Denn die einzelnen Arme haben sehr dünne Wände und sind innen hohl. „Dadurch können sie an verschiedenen Stellen geknickt werden und zwar reversibel. Sie gehen automatisch in ihre Ursprungsform zurück ohne Schaden zu nehmen“, erklärt Mishra. „Ähnlich wie ein Akkordeon kann das dreidimensionale Objekt also in ein zweidimensionales zusammengefaltet und wieder aufgeklappt werden.“
Die Kieler Forschenden entwickelten ein analytisches Modell, um zu beschreiben, wie sich Aerographit verhält, wenn es zusammengefaltet wird – zumindest nach ihrer Vermutung. Denn um zu beweisen, dass ihr Modell tatsächlich zutrifft, mussten sie die Mikrometer großen Objekte nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis knicken. Dafür benötigen sie ein spezielles Rasterelektronenmikroskop, das sie in Riga (Estland) fanden. Hier arbeitet das Kieler Team bereits mit Wissenschaftlern für ein anderes Projekt zusammen. Mit einer nanoskaligen Messnadel konnten die Kollegen dort die Aerographit-Tetrapoden greifen und verbiegen. Professor Nicola Pugno und Dr. Stefano Signetti, Materialwissenschaftler der italienischen Universität Trento, lieferten den endgültigen Beweis, dass die Annahmen der Kieler Kollegen korrekt waren. „Unsere theoretischen Berechnungsmodelle stimmen genau mit den Annahmen der Kieler Wissenschaftler und den experimentellen Beobachtungen aus Riga überein“, so Co-Autor Pugno.
„Die Berechnungsmethode, die durch diese internationale Zusammenarbeit entwickelt und verifiziert wurde, lässt sich auf Tetrapoden in verschiedenen Größen übertragen. Sie liefert eine wertvolle Basis, um die Eigenschaften von ganzen Tetrapodennetzwerken und Aerographit weiter zu untersuchen“, erläutert Mishra. Zu verstehen, wie sich Netzwerke von hohlförmigen Tetrapoden beliebig falten lassen ohne dabei beschädigt zu werden, könnte langfristig dazu beitragen, die Herstellung von hochporösen Festkörpern wie Aerogelen und Schaumstoffen zu optimieren oder sie bei der Regeneration von Gewebe zu verwenden (sogenannte Scaffolds in der Medizintechnik).