Verhalten von Elektronen bei extremen Bedingungen erstmals exakt beschrieben

04.10.2017 - Deutschland

Elektronen sind ein elementarer Bestandteil unserer Welt: Sie umgeben den Kern aller Atome, sind essentiell zur Bildung von Molekülen und bestimmen maßgeblich die Eigenschaften von Festkörpern und Flüssigkeiten. Ohne sie als Ladungsträger des elektrischen Stroms wäre unsere hochtechnisierte Umgebung mit Smartphones, Computern und selbst der klassischen Glühbirne nicht denkbar. Trotz ihrer Allgegenwärtigkeit ließ sich das Verhalten von miteinander wechselwirkenden Elektronen bisher nicht exakt beschreiben. Vor allem bei extremen Dichten wie im Inneren von Planeten oder in Sternen kamen bisher lediglich Näherungsmodelle zum Einsatz. Um genau solchen Bedingungen geht es einem Forschungsteam von Physikern der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). In Zusammenarbeit mit Kollegen aus den USA und Großbritannien ist es ihnen gelungen, das Verhalten von Elektronen unter diesen extremen Bedingungen durch exakte Simulationen zu beschreiben. Damit lösen die Wissenschaftler ein Problem, das die Physik seit Jahrzehnten beschäftigt.

Wie sich Elektronen „im Großen“ verhalten, lässt sich oft einfach beschreiben, zum Beispiel der Zusammenhang zwischen elektrischer Spannung, Widerstand und Stromstärke. Auf mikroskopischer Ebene unterliegt ihr Verhalten jedoch den Gesetzen der Quantenmechanik, was das Lösen komplizierter mathematischer Gleichungen erfordert. Von besonderer physikalischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das sogenannte homogene Elektronengas. Hierbei handelt es sich nicht um ein Gas im eigentlichen Sinne, sondern um ein Modell, das wichtige Eigenschaften von Elektronen beschreibt. Es ist unter anderem wichtig, um Phänomene wie die Supraleitung, also eine elektrische Leitung ohne Widerstand, oder Leitungselektronen in Festkörpern zu verstehen. Außerdem bildet das Modell die Grundlage für die sogenannte Dichtefunktionaltheorie. Sie ist die derzeit meist verbreitete Simulationsmethode in der Physik und der Chemie und wird auch zur Untersuchung von Materialeigenschaften in der Wirtschaft eingesetzt.

Simulationen des Elektronengases waren in der Vergangenheit auf Elektronen im Bereich tiefer Temperaturen beschränkt. In jüngster Zeit wächst jedoch das Interesse an Materie unter extremen Bedingungen – zehntausendmal wärmer als die Raumtemperatur und bis zu hundertmal dichter als gewöhnliche Festkörper. „Das Verhalten von Elektronen bei endlichen Temperaturen akkurat zu beschreiben, ist ein bisher ungelöstes Problem, das seit Jahrzehnten im Fokus der Wissenschaft steht“, sagt Michael Bonitz, Professor für Theoretische Physik und Leiter des Kieler Forschungsteams. In der Natur kommt diese „warme dichte Materie“ unter anderem im Inneren von Planeten vor sowie im Erdkern. Im Labor kann sie experimentell erzeugt werden, wenn zum Beispiel ein Festkörper mit einem Hochintensitätslaser oder einem freien Elektronen-Laser wie dem European XFEL bei Hamburg beschossen wird. Warme dichte Materie ist außerdem relevant für die Trägheitsfusion, die zukünftig eine nahezu unbegrenzte Quelle sauberer Energie darstellen könnte.

Um das Verhalten von Elektronen im Bereich der warmen dichten Materie zu beschreiben, kombinierten die Kieler Physiker neue Simulationsverfahren, die an der CAU entwickelt wurden. Frühere Ergebnisse basierten auf verschiedenen Modellen, die zum Teil schwer nachprüfbare Näherungen enthielten. Mithilfe aufwendiger Computersimulationen konnten die Kieler Physiker die komplexen Gleichungen des Elektronengases jetzt jedoch exakt lösen. In Zusammenarbeit mit Kollegen vom Los Alamos National Laboratory (USA) und dem Imperial College London gelang den Forschern damit die erste vollständige und finale Beschreibung der thermodynamischen Eigenschaften wechselwirkender Elektronen im Bereich der warmen dichten Materie. “Diese Ergebnisse sind die ersten exakten Daten in diesem Bereich und werden unser Verständnis von Materie bei endlicher Temperatur auf eine neue Stufe heben“, erklärt Bonitz. „Unter anderem können nun erstmals die teils seit 40 Jahren existierenden Modelle überprüft werden. Wir konnten bereits Abweichungen von 10 bis 15 Prozent nachweisen.“ Am Ende ihrer jahrelangen Arbeit stehen jetzt also konkrete Zahlen und Formeln, die wichtig für den Vergleich mit Experimenten sind. Sie werden Eingang in weiterführende Theorien finden und damit auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren Forschungen weiterbringen, so hoffen die Kieler. 

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