Zerreißprobe für dünne Polymerfilme -- Neue Erkenntnisse warum und wie dünne Flüssigkeitsfilme aufbrechen

Wissenschaftspreis der Stadt Ulm 2003

16.07.2003

In der Technik ist es nicht selten unerwünscht, daß manche Flüssigkeiten von einer Oberfläche abperlen. Deshalb findet man zum Beispiel in der Gebrauchsanweisung einer Farbe oder eines Klebstoffes den Hinweis, daß die Oberfläche, auf die die Substanz aufgebracht werden soll, staub- und fettfrei sein muß. In manchen Fällen ist es sogar erforderlich, die Unterlage anzuschleifen oder mit einem Haftgrund vorzubehandeln. Ein anderes Beispiel: Die sehr dünne Schmierschicht in der Festplatte eines Computers, die zwischen dem Schreib-/Lese-Kopf und dem Speichermedium liegt, ermöglicht den dauerhaften Betrieb der Festplatte, da sie mechanischen Kontakt verhindert. Oder der Verbrennungsmotor: Die Schmierschicht Zwischen Zylinderwand und Kolben darf selbst bei den hohen für den Verbrennungsvorgang typischen Temperaturen nicht abreißen.

In diesen und zahllosen anderen Fällen ist es von großer Bedeutung zu wissen, warum dünne Flüssigkeitsfilme aufbrechen oder sich "entnetzen", wie es fachsprachlich heißt. Mit diesen Vorgängen hat sich Dr. Ralf Seemann, Abteilung Angewandte Physik (Leiter Prof. Dr. Stephan Hermighaus) der Universität Ulm, auseinandergesetzt. Er untersuchte im Detail, wie ein hauchdünner Film des Kunststoffes Polystyrol von einem glatten Silizium- oder Siliziumoxid-Plättchen abperlt. Gegenüber Wasser ist Polystyrol recht zähflüssig, daher entnetzt sich der Kunststoff langsam. Der Vorgang kann einige Stunden oder sogar Tage dauern. In der dünnen Kunststoffschicht entstehen zunächst kleine Löcher, die sich allmählich vergrößern. Das Polystyrol sammelt sich in den Lochrändern an. Es bilden sich ringförmige Wulste, deren Größe ständig zunimmt. Sind die einzelnen Löcher so weit angewachsen, daß benachbarte Polystyrolränder einander berühren, verschmelzen sie. Von dem ursprünglichen Film bleibt nur ein Netzwerk aus Stegen übrig, die schließlich zu einzelnen Tröpfchen zerfallen.

Welche Bedingungen führen zur Entnetzung? Für das Aufbrechen extrem dünner Polymerfilme, die nur wenige zehn Nanometer dick und damit ungefähr zehntausendmal dünner sind als ein menschliches Haar, ging man bisher von zwei möglichen Ursachen aus: die Löcher bilden sich entweder in der Umgebung von Staubteilchen oder chemischen Verunreinigungen (heterogene Nukleation), oder sie entstehen spontan durch Verstärkung der thermischen Fluktuation der Filmdicke (spinodale Entnetzung).

Seemann hat den gesamten Entnetzungsvorgang vom Aufbrechen der ersten Löcher, über deren Wachstum bis zum Endzustand der Entnetzung detailliert untersucht und unter anderem neue Mechanismen der Lochbildung gefunden sowie neue Erkenntnisse zur Fließfähigkeit (Viskosität) dünner Polystyrolfilme gewonnen. Mit einem Rasterkraftmikroskop, das die Oberfläche mit einer sehr feinen Spitze abtastet, ist es erstmals gelungen, an hauchdünnen flüssigen Polystyrolfilmen, die auf Siliziumoxid-Plättchen aufgebracht waren, den Entnetzungsvorgang in Echtzeit zu beobachten. Aus den charakteristischen Lochabständen und der Zeitskala, auf der das Entnetzungsmuster entsteht, konnten die Viskosität des Flüssigkeitsfilms und die Stärke der Wechselwirkung zwischen dem Polymer und dem Substrat bestimmt werden. Dabei wurde für dünne Polystyrolfilme auf Siliziumoxid-Plättchen der Entnetzungsmechanismus eindeutig als spinodale Entnetzung identifiziert, womit die aus dem Jahr 1974 stammende Theorie von Eli Ruckenstein und Rakesh K. Jain erstmals quantitativ bestätigt werden konnte. Mit dem Wissen über den genauen Aufbrechmechanismus und dessen theoretischer Berechnung können nun sehr präzise Aussagen über die Stabilität von dünnsten Flüssigkeitsfilmen auf festen Unterlagen getroffen werden.

Ein Film, der stabil gegenüber thermischen Fluktuationen ist, kann nicht über den Mechanismus der spinodalen Entnetzung aufbrechen. Er kann nur über die heterogene Nukleation aufreißen. Seemann stieß aber noch auf eine weitere Möglichkeit: die Löcher können auch durch Verspannungen innerhalb des Polymerfilms verursacht werden. Diese Verspannungen sind allen aus Lösung aufgebrachten Polymerfilmen gemein und haben ihre Ursache in der langkettigen Polymergestalt. Ein Polymer ist aus vielen gleichen Einheiten aufgebaut, wobei die Kettenlänge ein Maß der tatsächlichen Länge des Moleküls im gestreckten Zustand ist. Verspannungen in Polystyrolfilmen treten mit steigender Kettenlänge verstärkt auf.

Im weiteren Verlauf der Entnetzung, wenn die Löcher bereits aufgebrochen sind, sammelt sich das Material in einem Randwulst ringförmig um die Löcher an. Aus der charakteristischen Form dieser Lochrandprofile und der Dynamik des Lochwachstumes lassen sich Rückschlüsse auf rheologische Eigenschaften von Polymeren auf kleinster Längenskala ziehen. Für Flüssigkeitsfilme, die sich wie eine ideale Flüssigkeit verhalten, fand Seemann zudem eine bis dahin unbekannte Form des Lochrandes, die unter geeigneten Bedingungen die Bildung von konzentrisch um das ursprüngliche Loch angeordneten Satellitenlöchern nach sich zieht.

Die Analyse des zeitlichen Ablaufs des Aufreißens führte zur Entdeckung einer Viskosität der hauchdünnen Polystyrolfilme, die von derjenigen des kompakten Materials stark abweicht. Die genaue Filmdickenabhängigkeit dieses anomalen Verhaltens konnte mit Hilfe optischer Dilatometrie (Messung der thermischen Ausdehnung) bestätigt und mit einem theoretischen Modell beschrieben werden. Im Vergleich zum Volumenmaterial Polystyrol, das z.B. als Material für Joghurtbecher oder CD-Hüllen begegnet, haben extrem dünne Polystyrolfilme eine millionenfach niedrigere Viskosität mit der Folge extrem höherer Beweglichkeit. Es ist zu erwarten, daß die von Seemann gewonnenen Erkenntnisse zu den Entnetzungsprozessen à la longue zum Beispiel Einfluß auf die Technologie verschiedenster industrieller Beschichtungsprozesse haben werden.

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