Im Niemandsland der Eiskristalle
Simulationen erlauben erstmals Einblicke in die Kristallisation winziger Wassertropfen
© Davide Donadio
Für ihre Untersuchungen haben die Wissenschaftler winzige Wassertropfen mit einem Radius zwischen 2,4 und 6,1 Nanometern betrachtet. „Sie enthalten ungefähr 2000 beziehungsweise 32000 Wassermoleküle“, erklärt der Physiker Davide Donadio, der am Max-Planck-Institut für Polymerforschung die Forschungsgruppe Theory of Nanostrucures and Transport leitet. „Unsere Simulationen basieren auf einem klassischen Modell, das die Thermodynamik des Wassers gut wiedergibt.“ Dieses Modell berücksichtigt insbesondere eine Eigenschaft, die charakteristisch für das Verhalten von Wasser ist: seine Dichteanomalie. Im Gegensatz zu anderen Flüssigkeiten erreicht Wasser seine maximale Dichte nicht am Gefrierpunkt, sondern schon bei vier Grad Celsius. Aus diesem Grund frieren Seen und Flüsse selbst bei Temperaturen weit unter null Grad nie vollständig zu.
Die Berechnungen hat Tianshu Li auf einem kleinen Computer-Cluster an der George Washington University vorgenommen. Mit ihrer Hilfe konnten die Wissenschaftler die Bewegungen jedes einzelnen Moleküls bei Temperaturen zwischen minus 68 und minus 33 Grad Celsius nachverfolgen und genau beobachten, wann die Kristallisation des Wassers begann. „Dabei stellten wir fest, dass die Eisbildung bei Tropfen mit einem Radius von unter fünf Nanometern stark von ihrer Größe abhängt“, sagt Tianshu Li. „Je kleiner die Tropfen wurden, desto geringer war bei einer festen Umgebungstemperatur die Kristallisationsrate“. Sobald der Radius über fünf Nanometern lag, hing die Eisbildung hingegen kaum mehr von der Tropfengröße ab.
In Nanotropfen sinkt die Kristallisationsrate mit ihrem Radius
Für dieses Verhalten sind vor allem Oberflächeneffekte verantwortlich: Wegen der Krümmung der Wassertropfen herrscht in ihnen ein höherer Druck als in der Umgebung – ein Phänomen, das den Namen Laplace-Druck trägt und mit sinkendem Radius immer wichtiger wird. Ursache dafür ist die Oberflächenspannung des Wassers: Kräfte zwischen den Molekülen sorgen dafür, dass sich die Oberfläche ähnlich wie eine Folie verhält und kleine Lasten tragen kann. Das erlaubt es beispielsweise Insekten, über Bäche oder Seen zu spazieren.
In den winzigen Wassertropen führt der Laplace-Druck dazu, dass sich die Eisbildung verlangsamt. „Durch den höheren Druck in ihrem Inneren sinkt die Kristallisationsrate“, so Donadio. „Grund dafür ist die Anomalie des Wassers: Weil Eis eine geringere Dichte hat, führt eine Druckerhöhung immer zu einem sinkenden Gefrierpunkt.“ Genau das zeigte auch die Simulation: Je kleiner der Tropfenradius wurde, desto höher stieg der Laplace-Druck und desto kleiner war die Kristallisationsrate.
„Es gibt eine große Debatte über das Verhalten von Wasser in der von uns untersuchten Temperaturregion“, erklärt Tianshu Li. „Mit Hilfe unserer Resultate können andere Forscher jetzt die Ergebnisse von Experimenten besser interpretieren.“ Solche Versuche sind extrem schwierig, weil die Eisbildung in den winzigen Tropfen äußerst schnell abläuft und sich darum nur unter großen Schwierigkeiten beobachten lässt – aus diesem Grund sprechen Wissenschaftler auch von einem Niemandsland für Experimente. Die Ergebnisse der Simulation sind aber auch für die Atmosphärenforschung von großer Bedeutung: Wassertropfen in den Wolken streuen das Sonnenlicht und bestimmen dadurch, wie viel Strahlung auf der Erde ankommt. Die Resultate von Donadio und seinen Kollegen Tianshu Li von der George Washington University und Giulia Galli von der University of California verhelfen Atmosphärenforschern jetzt zu einem besseren Verständnis der Eisbildung in Stratosphärenwolken. Zudem können sie ihre Klimamodelle verbessern, weil sich die Streuung des Sonnenlichts an Wolken besser berechnen lässt.