Europäische Chemieindustrie muss noch krisenfester werden

Ein Jahr nach Start der Krise: A.T. Kearney, CHEManager Europe und die Westfälische Wilhelms-Universität Münster untersuchen Kunden-Lieferantenverhältnis in der europäischen Chemieindustrie

14.12.2009 - Deutschland

Die Stimmung in der europäischen Chemieindustrie hellt sich auf: Laut einer aktuellen Umfrage gehen 80 Prozent der Chemieproduzenten und etwa 60 Prozent der Kunden für die nächsten Monate wieder von einer steigenden Nachfrage aus. Auch für die Rohstoffpreise wird mehrheitlich ein Anstieg prognostiziert. Als wesentliche Erkenntnis aus der Krise geben beide Seiten die Notwendigkeit an, Konzepte zur Steigerung der unternehmerischen Flexibilität einzuführen. 40 Prozent der Chemieproduzenten und jeder vierte Kunde fühlen sich einem weiteren konjunkturellen Tiefschlag noch immer nicht ausreichend gewachsen. Zu diesem Ergebnis kommt eine europaweite Befragung der Top-Managementberatung A.T. Kearney, CHEManager Europe und der Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Sie wurde im Zeitraum Mitte September bis Mitte Oktober unter 120 Führungskräften aus 15 Ländern durchgeführt.

„Die europäische Chemieindustrie wurde von der Wirtschaftskrise schwer gebeutelt: Bei drei Viertel aller befragten Chemieunternehmen führte sie zu einem krisenbedingten Nachfrageeinbruch von 10 bis 50 Prozent und mehr. Inzwischen mehren sich die Anzeichen für eine Erholung, jedoch ist fraglich, ob wir tatsächlich am Anfang eines nachhaltigen Aufschwungs stehen, oder die Krise nicht vielmehr eine Verschnaufpause eingelegt hat. Für Unternehmen kommt es daher mehr denn je darauf an, ihre operative Effizienz zu stärken und maximale Flexibilität zu schaffen, um agil und schnell auf weiterhin wechselhafte Marktbedingungen zu reagieren. In der Nach-Krisen-Zeit wird Agilität der Erfolgsfaktor schlechthin sein“, sagt Dr. Tobias Lewe, Partner in der Chemie und Öl Practice von A.T. Kearney.

Nachfrage zieht an

Während auf Hersteller- wie auf Kundenseite im April noch drei Viertel der Befragten eine schwache bzw. rückläufige Nachfrage erwarteten, offenbart die Untersuchung eine Trendwende: 80 Prozent der Hersteller und etwa 60 Prozent der Kunden gehen davon aus, dass die Nachfrage wieder anzieht. „Nach einer langen wirtschaftlichen Talfahrt scheint die Industrie einen - zumindest - vorübergehenden Tiefpunkt erreicht und überwunden zu haben. Dennoch ist Vorsicht vor voreiliger Euphorie geboten: Da nicht auszuschließen ist, dass ein Teil der Belebung auf Lagereffekte zurückzuführen ist, wird der beobachtete Bedarfsanstieg möglicherweise überschätzt. Die Nachfrageerwartung der Chemiekunden, die nicht ganz so positiv ist wie die der Produzenten, zeichnet höchstwahrscheinlich ein realistischeres Bild der aktuellen Marktsituation“, sagt Dr. Marc Vathauer, für die Studie verantwortlicher Berater bei A.T. Kearney.

Untermauert wird die insgesamt optimistische Einschätzung durch die Erwartungen bei der Rohstoffpreisentwicklung: 90 Prozent der Teilnehmer prognostizieren einen Anstieg.

Die aktuellen Prioritäten bei den Kaufkriterien der Chemiekunden bekräftigen die Annahme, dass der Markt nach einer Phase des Lagerabbaus eine Trendumkehr erfährt: Verfügbarkeit (96 Prozent) führt derzeit die Prioritätenliste an und hat die Preisgestaltung als bisher wichtigstes Einkaufskriterium abgelöst. „Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise hatten die meisten Unternehmen ihre Lagerbestände vollständig herunter gefahren und bauen diese nun wieder auf. Lieferengpässe sind kurz- und mittelfristig sehr wahrscheinlich“, sagt Vathauer.

In Bezug auf die Preisgestaltung ist auffällig, dass neben dem Preis-Leistungs-Verhältnis auch der reine Volumenpreis deutlich an Bedeutung zugelegt hat und von den Kunden mit 87 Prozent als ebenso wichtig erachtet wird. „Chemiekunden stellen in zunehmendem Maße nicht nur die Preisgestaltung von chemischen Grundstoffen auf den Prüfstand, sondern auch die von Spezialitäten. Sie haben deutlich gemacht, dass ein komplexes Spezialitätenprodukt allein nicht mehr ausreicht, um einen hohen Preis zu rechtfertigen. Dieser Paradigmenwechsel, der offenbar in der Chemieindustrie vonstatten geht, legt eine gewisse Entmystifizierung des Spezialitäten-Bereichs nahe“, so Lewe.

Operative Effizienz sticht

Um Auswirkungen der Wirtschaftskrise abzufedern, arbeitet die Mehrheit der Produzenten und Kunden weiterhin hauptsächlich an der Verbesserung ihrer operativen Effizienz (89 und 87 Prozent). Analog zur Befragung im April stellt auch eine bessere Steuerung der Schnittstelle zum Kunden für Chemieproduzenten weiterhin die zweitwichtigste Gegenmaßnahme im Kampf gegen die Krise dar (40 Prozent).

An Bedeutung gewonnen haben auf Kundenseite vor allem auch M&A-Aktivitäten. Wurden sie im April lediglich von 15 Prozent der Befragten in Betracht gezogen, tut es nun mehr als jeder Dritte (35 Prozent). „Diese Entwicklung lässt eine wachsende Bereitschaft von finanziell gut aufgestellten Kunden der Chemieindustrie erkennen, sich vor- oder rückwärts entlang der Wertschöpfungskette zu integrieren“, sagte Lewe.

Im Kampf gegen die Krise ebenfalls wichtiger geworden ist für Kunden eine engere Geschäftsbeziehung zu ausgewählten Lieferanten. Die entsprechende Zahl hat sich im Vergleich zu April nahezu verdoppelt (61 vs. 33 Prozent).

Weniger Geld für Innovationen

Im Zuge der Krise haben rund 60 Prozent der Befragten auf Hersteller- und Kundenseite ihr Innovationsbudget reduziert und Maßnahmen ergriffen, um dessen Effektivität zu erhöhen. Nach wie vor haben Kunden der Chemie in punkto Innovationen vielfältige Erwartungen, allerdings haben vor allem Innovationssprünge in Form von völlig neuen Produkten wieder deutlich zugenommen. Nachdem ihre Bedeutung zu Beginn der Krise abgenommen hatte, sind sie nun wieder genauso wichtig wie 2008. „Hierfür gibt es zwei Erklärungen“, sagt Vathauer. „Zum einen stellen manche Kunden jetzt, da sich die Chemieunternehmen mutmaßlich vom Schlimmsten erholt haben, wieder gesteigerte Erwartungen an ihre Lieferanten. Zum anderen wird der eine oder andere Kunde hoffen, dass ihm sein Lieferant mit einem Innovationssprung wieder zu alter Wettbewerbskraft verhilft“, fügt Vathauer hinzu.

Schwerpunkt auf kurzfristigen Gegenmaßnahmen

In Bezug auf den Zeithorizont der Maßnahmen gegen die Krise gab jedes dritte Unternehmen auf Hersteller- und Kundenseite an, sich auf kurzfristige Aktivitäten konzentriert zu haben. „Der unmittelbare Handlungsdruck macht einmal mehr deutlich, dass eine Krise dieses Ausmaßes die Industrie und ihre Kunden völlig überrumpelt hat. Nichtsdestotrotz kann die Konzentration auf kurzfristige Maßnahmen nur die Basis einer stärker strategisch geprägten Ausrichtung sein“, so Vathauer.

Einen solchen Kurs hat rund die Hälfte der befragten Chemieunternehmen und der Kunden bereits eingeschlagen. Diese gaben an, in eine Mischung aus kurz- und langfristigen Maßnahmen investiert zu haben. „Das ist der Königsweg: Im Sinne einer ‚Nachhaltigen Restrukturierung‘ sollten alle kurzfristigen Maßnahmen zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit und Stärkung der Profitabilität an der übergreifenden Unternehmensstrategie ausgerichtet werden. Nur so können die Weichen für profitables Wachstum gestellt werden“, sagt Lewe.

Nach wie vor fühlen sich etwa 40 Prozent der Produzenten und ein Viertel der Kunden nicht in der Lage, einer weiteren Wirtschaftskrise dieser Größenordnung erfolgreich entgegenzuwirken. 60 Prozent der Befragten auf Produzenten- und Kundenseite erachten die Einführung von Konzepten zur Steigerung der unternehmerischen Flexibilität als absolut erfolgsentscheidend im Kampf gegen zukünftige konjunkturelle Unwägbarkeiten.

Lewe abschließend “Die aktuelle Untersuchung zeigt Licht am Ende des Tunnels. Wenn die Erholung nachhaltig sein soll, gibt es allerdings noch eine Menge zu tun. Auch wenn es kein Allheilmittel gegen diese oder andere Krisen gibt, werden diejenigen Unternehmen klar im Vorteil sein, die umstellungsfähig und agil sind, sowie systematisch und konsequent an einer Flexibilisierung ihrer Prozesse und Produktionszyklen arbeiten.“

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