Was haben Kunst und Organische Chemie gemeinsam?

Wissenschaftlerteam schlägt neue Kategorisierung von Molekülen vor

03.03.2020 - Deutschland

Was haben Kunst und Organische Chemie gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Prof. Dr. Ansgar Schnurr (Institut für Kunstpädagogik) und Prof. Dr. Hermann A. Wegner (Institut für Organische Chemie), beide Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), haben sich die Frage gestellt und regen an, Moleküle aus einer neuen Perspektive zu sehen.

Ansgar Schnurr

Impression von der Projektausstellung „Perspektivisomorphe“ an der JLU.

Um die Frage der Visualisierung von Molekülen, die physikalisch dem menschlichen Sehprozess verschlossen bleiben, ist im Rahmen ihres interdisziplinären Forschungsprojekts ein komplexer Diskurs entbrannt. Von welchen Voraussetzungen gehen visuelle Modelle atomarer Strukturen aus und inwiefern leiten sie die Erkenntnisse? Welche Rolle spielt der „Faktor Mensch“ mit seinen Bedingungen des Sehens und Erkennens? Die Rolle des Betrachters sowie die Darstellung des Unsichtbaren waren Herausforderungen, die die beiden Wissenschaftler gemeinsam mit Ihrem Mitarbeiter Jannis Neumann in den Blick nehmen mussten. Ausgehend von der innovativen Konzeption einer visuellen Perspektive in der Chemie haben sie eine neue Kategorisierung von Molekülen entwickelt, die das Molekül direkt ins Verhältnis zum sehenden Betrachter stellt.

Um zu erforschen, welche Auswirkungen das Paradigma des menschlichen Sehens auf die modellhafte Vorstellung von Molekülen hat, hat das Forscherteam sowohl einen rational-geometrischen Analyseweg beschritten als auch künstlerische Ansätze in die Forschungen einbezogen. Berechnet wurde, welche Atome bestimmter Moleküle von einem festgelegten Betrachterstandpunkt einander verdecken und eine visuell ähnliche Gruppierung bilden (Stichwort „Perspektivisomorphe“). Zudem hat das Wissenschaftlerteam die Arbeiten zeitgenössischer Künstler in das Projekt einbezogen. Ihre innovativen grafischen Bildfindungen zu Atomdarstellungen wurden gleichrangig zu der konventionellen Visualisierung von Atommodellen verwendet. Auf diese Weise konnte die Interpretations- und Gestaltungsoffenheit wissenschaftlicher Modelle gezeigt und akzentuiert werden.

Die Ergebnisse des Projekts waren im Sommer 2018 in einer Ausstellung an der JLU zu sehen und wurden kürzlich in der Fachzeitschrift „Beilstein Journal of Organic Chemistry“ publiziert. Auf diese Weise ist es gelungen, den unterschiedlichen Gepflogenheiten der beiden Fachrichtungen gerecht zu werden.

„Die Resultate stellen einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis von molekularen Phänomenen dar und regen gleichzeitig die Diskussion um Wahrnehmung, Modellbildung und Realität an, die über die beteiligten Disziplinen – Kunst und Chemie – hinausgeht“, ist Prof. Wegner überzeugt. „Das Projekt liefert einen grundsätzlichen Beitrag zu den Erkenntnismöglichkeiten solch interdisziplinärer, grenzüberschreitender Forschungen und zeigt, welchen besonderen – zunächst nicht unbedingt erwarteten – Beitrag die Kunst dabei zu leisten vermag“, ergänzt Prof. Schnurr.

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