Molekülstöße in Zeitlupe verbessern das Verständnis chemischer Reaktionen

Kollisionen zwischen stark abgebremsten Molekülen enthüllen quantenmechanische Details von Stoßprozessen

30.11.2012 - Deutschland

Nie zuvor konnten Wissenschaftler die Wechselwirkung zwischen zwei reaktionsfreudigen Molekülen so detailliert studieren: Einem Team aus Forschern des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin, der Radboud University in Nijmegen und des Institute of Atomic and Molecular Sciences in Taipeh ist es gelungen, Hydroxyl- und Stickoxid-Moleküle unter präzise kontrollierten Bedingungen im Labor zur Kollision zu bringen. Neben den Details der Stoßprozesse liefert das Experiment auch Informationen darüber, wie genau theoretische Modelle chemische Reaktionen beschreiben.

© Ludwig Scharfenberg

Polierter Bremsweg: 316 Edelstahlelektroden, die ständig An und Aus geschaltet werden, bremsen Moleküle im Stark-Decelerator ab. Auf diese Weise hat ein internationals Team um Forscher des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft Hydroxyl- und Stickoxid-Radikale unter genau kontrollierten Bedingungen auf Kollisionskurs gebracht, um die quantenphysikalischen Details der Stöße zu untersuchen. Die Elektroden müssen völlig blank sein, um elektrische Überschläge zu vermeiden.

Wir sind überall umgeben von Molekülen, die unablässig miteinander reagieren. Aber was genau geschieht bei einer chemischen Reaktion? „Letzten Endes handelt es sich dabei immer um Stoßprozesse, bei denen Moleküle aufeinander treffen und eine Verbindung eingehen oder Atome austauschen“, sagt Moritz Kirste, der am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft maßgeblich an den Experimenten beteiligt war. Bei Verbrennungsprozessen, in der Atmosphäre und in der Astrochemie spielen diese Kollisionen eine wichtige Rolle. Ein besseres Verständnis der Chemie setzt also voraus, dass die Forscher die Details der Stoßprozesse auch auf quantenphysikalischer Ebene untersuchen.

Für den Ablauf der Kollisionen ist die Geschwindigkeit der beteiligten Moleküle ein entscheidender Faktor – wer sie beeinflussen kann, hat Kontrolle über den Stoßprozess. Die Forscher beherrschen eine einzigartige Technik, um Moleküle sehr präzise auf eine gewünschte Geschwindigkeiten zu bringen: Mit ihrem Stark-Decelerator (englisch: Stark-Abbremser) können sie einen Strahl aus Molekülen auf eine vorgegebene Geschwindigkeit abbremsen und zudem alle Moleküle heraus filtern, die nicht im niedrigsten Energiezustand sind. Am Ende erhalten sie einen Strahl, dessen Moleküle gleich schnell sind und die alle die gleiche Rotationsenergie enthalten – die perfekte Ausgangsbedingung, um an einem einfachen System den Einfluss der Geschwindigkeit und des Energiezustands auf die Stoßwahrscheinlichkeit zu studieren.

316 Elektrodenpaare bremsen die Moleküle mit einer Spannung von 40000 Volt

Die Anlage in Berlin beruht auf dem Stark-Effekt, durch den sich die Energieniveaus der Moleküle in einem elektrischen Feld aufspalten und der auch aus der Atomphysik bekannt ist. Sie ist fast drei Meter lang und besteht aus 316 hoch polierten Elektrodenpaaren, die abwechselnd horizontal und vertikal angeordnet sind. „Während die Moleküle durch den Abbremser strömen, schalten wir an den jeweiligen Elektrodenpaaren eine elektrische Spannung von 40 000 Volt abwechselnd ein und aus“, erklärt Kirste. „Für die Moleküle ist das so, als ob sie eine Treppe nach oben steigen müssten: Sie verlieren an jedem Elektrodenpaar etwas Energie und werden immer langsamer.“

Für ihr aktuelles Experiment haben die Wissenschaftler mit dem Stark-Abbremser einen Strahl aus Hydroxyl-Molekülen (OH) erzeugt, der senkrecht auf einen weiteren Strahl aus Stickoxid-Molekülen (NO) traf – beide Moleküle sind Radikale, die als besonders reaktionsfreudig gelten. Auf diese Weise konnten die Wissenschaftler untersuchen, was während einer Kollision zweier Radikale bei fest vorgegebener Geschwindigkeit geschieht und welche Energieniveaus im OH-Molekül angeregt wurden: „Bei den Kollisionen ändert sich der Energiezustand der OH-Moleküle; es handelt sich um inelastische Stöße“, erklärt Kirste. „Dadurch wurden die Moleküle zu Rotationen angeregt, während das System kinetische Energie verliert.“ Wie viel Energie genau übertragen wurde, analysierten die Wissenschaftler mit Hilfe zweier Laser, die den Zustand der Moleküle nach dem Stoß bestimmten.

Genauere Voraussagen zu chemischen Reaktionen werden jetzt möglich

Derart detaillierten Informationen über den Stoßprozess gab es bislang noch nicht, und sie werden dazu beitragen, das Verständnis chemischer Reaktionen zu verbessern. Zugleich helfen sie den Forschern auch, bessere theoretische Voraussagen zu treffen: Dafür berechnen sie mit Hilfe der Quantenmechanik die potentielle Energie der Reaktionspartner, zum Beispiel als Funktion ihres Abstandes. Als Ergebnis erhalten sie Potentialhyperflächen (Potential Energy Surfaces, PES), die Aussagen über den Reaktionsverlauf erlauben. „Mit unserem Experiment konnten wir die fundamentalen Ideen hinter den Potenzialhyperflächen überprüfen“, erklärt Kirste. „Ähnlich detaillierte sind diese bisher nur für einfachere Situationen berechnet worden.“ Die Theoretiker aus Holland konnten nun erstmals die Potentialhyperflächen für zwei Radikale bestimmen. Dabei zeigte sich, dass Theorie und Experiment gut übereinstimmen.

Nun wollen die Berliner Wissenschaftler die Auflösung ihres Experiments weiter steigern, um Quanteneffekte beim Stoß zwischen Hydroxyl-Radikalen und Helium-Atomen zu untersuchen. Die Gruppe in Holland arbeitet daran, auch die Winkelverteilung der gestreuten Radikale zu messen, um noch mehr Informationen über den Stoßprozess zu gewinnen.

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