Flüssigkeiten, die Kräfte absorbieren
© Lucio Isa/ ETH Zurich
Auf den ersten Blick ähneln Kolloide homogenen Flüssigkeiten wie beispielsweise Milch oder Blutplasma. Tatsächlich sind sie jedoch Suspensionen aus festen Partikeln. Einige Kolloide haben erstaunliche Eigenschaften: Sie werden unter Krafteinwirkung fest und ihre Oberflächen absorbieren die auf sie einwirkenden Kräfte. Diese Besonderheit eröffnet eine ganze Reihe interessanter Anwendungsmöglichkeiten, von der kugelsicheren Weste bis zum Schutzschild für Satelliten. Vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Wissenschaftler haben entdeckt, dass sich das Verhalten der Kolloide unter extremer Krafteinwirkung verändern kann. Um die Eigenschaften dieser Kolloide besser zu verstehen, haben sie ein neues Modell entwickelt.
Im Rahmen einer SNF-Förderungsprofessur stellen Lucio Isa und sein Team an der ETH Zürich sogenannte "zweidimensionale" kolloidale Kristalle her. Die winzigen Siliziumkügelchen haben einen Durchmesser von wenigen Mikrometern und schweben in einem Gemisch aus Wasser und Glyzerin. Die Forschenden der ETH untersuchen gemeinsam mit Chiara Daraio von Caltech (USA) und Stéphane Job vom Institut Supérieur de Mécanique in Paris, wie dieses Kolloid Kräfte absorbiert.
Dabei hat das Team festgestellt, dass sich bei Kolloiden mit mikrometerkleinen Teilchen die Art und Weise der Absorption in Abhängigkeit von der Intensität und der Geschwindigkeit der einwirkenden Kraft verändert. Unterhalb eines bestimmten Schwellenwerts ist die Viskosität der Flüssigkeit entscheidend – ein in den klassischen Modellen gut beschriebenes Phänomen. "Stellen Sie sich vor, wie die winzigen Glaskügelchen in der Flüssigkeit schweben", sagt Lucio Isa. "Sobald eine Kraft einwirkt, fangen sie an, sich zu bewegen. Dabei gerät auch die sie umgebende Flüssigkeit in Bewegung, und zwar je nach Viskosität schneller oder langsamer. Diese Bewegung des Fluids sorgt dafür, dass sich das Ganze verfestigt."
Ist die einwirkende Kraft allerdings sehr stark, kann sich die Flüssigkeit zwischen den Kügelchen nicht mehr bewegen und diese verformen sich. "Dann wird die Absorption der Kräfte vor allem durch die physikalischen Eigenschaften der Kügelchen bestimmt, weshalb sich die üblichen Gleichungen nicht anwenden lassen", erklärt Lucio Isa.
Der Aufprall einer Gewehrkugel
Damit die Teilchen zum entscheidenden Faktor werden, muss die einwirkende Kraft extrem stark sein – wie beispielsweise beim Aufprall einer Gewehrkugel oder eines Mikrometeoriten – sandkorngrosser Körper, die Satelliten im All mit einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern pro Sekunde treffen können.
Derart intensive Kräfte im Labor zu erzeugen, sei ziemlich schwierig gewesen, erklärt Lucio Isa. Die Forschenden überzogen zu diesem Zweck einen kleinen Teil der Siliziumkügelchen mit Gold. Wird das Gold mit einem gepulsten Laser bestrahlt, verdampft es und erzeugt eine Stosswelle, die das Kolloid in ähnlicher Weise verändert wie der Aufprall eines Mikrometeoriten. Die Wissenschaftler dokumentierten ihr Experiment mit Highspeed-Mikroskop-Kameras.
"Ihre speziellen Eigenschaften machen die Kolloide zu faszinierenden Forschungsobjekten", so Lucio Isa. "die beispielsweise die Entwicklung neuartiger Schilde, die Satelliten gegen aufprallende Mikrometeoriten schützen, ermöglichen könnten."
Die vom SNF geförderten Forschungsarbeiten wurden an der ETH Zürich, am Supméca (Institut Supérieur de Mécanique) in Paris und bei Caltech (USA) durchgeführt. Der SNF fördert darüber hinaus das von der französischen Forschungsagentur ANR und der französischen Forschungsstiftung für Luft- und Raumfahrt (FRAE) unterstützte Projekt Metaudible.
Originalveröffentlichung
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