Evolution im Reagenzglas

Max-Planck-Chemiker haben ein fundamental neues Prinzip zur Effizienzsteigerung enantioselektiver Biokatalysatoren entwickelt

19.05.2004

Katalysatoren steuern mehr als 80 Prozent aller großtechnischen Prozesse in der chemischen Industrie. Von besonderem Interesse sind deshalb Katalysatoren, die es ermöglichen, so genannte chirale, also spiegelbildliche Verbindungen, gezielt herzustellen. chirale Verbindungen werden heute vor allem als Medikamente, Pflanzenschutzmittel oder sonstige Wirkstoffe eingesetzt. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung in Mülheim/Ruhr haben sich nun Prinzipien der Evolution zunutze gemacht und ein grundsätzlich neues Verfahren erfolgreich entwickelt, mit dem man die Enantioselektivität von Biokatalysatoren (Enzyme) gezielt steigern kann. Dazu lösten die Forscher in dem Gen-Abschnitt, der das Enzym kodiert, zufällige Mutationen aus. Die mutierten Gene wurden dann in Bakterien eingeschleust, und unter den auf diese Weise erzeugten Enzymen dann in einem Hochdurchsatz-Verfahren diejenigen mit der höchsten Enantioselektivität für ein bestimmtes Produkt bestimmt. Den Forschern gelang es durch wiederholte Mutation, die Enantioselektivität von Enzymen von unter 10 auf über 90 Prozent zu steigern (PNAS, 20. April 2004). Ferner gelang es ihnen, die Richtung der Enantioselektivität umzukehren.

In der Natur und in der synthetischen organischen Chemie gibt es eine Vielzahl an Stoffen bzw. chemischen Verbindungen, die man als Enantiomere bezeichnet. Dabei handelt es sich um spiegelbildliche Verbindungen, die man nicht zur räumlichen Deckung bringen kann wie die rechte oder linke Hand, sondern chiral (von griechisch ceir = Hand) sind. Viele synthetische Wirkstoffe wie zum Beispiel etliche Medikamente kommen als Enantiomere vor, wobei meist nur die eine enantiomere Form die gewünschte biologische Wirkung entfaltet, während das spiegelbildliche Gegenstück unnötigen "Ballast" darstellt oder sogar zu einer biologisch extrem unerwünschten Wirkung führt. Daher sind Katalysatoren, die wahlweise eine der beiden Formen eines chiralen Produktes stereoselektiv zugänglich machen, begehrte Wirkstoffe in der Fein- und der pharmazeutischen Chemie. Die zwei wichtigsten Optionen für Katalysatoren sind Übergangsmetall-Verbindungen oder biologische Enzyme. Doch leider ist die Enantioselektivität einer im Labor ablaufenden Stoffumwandlung oft unzureichend, so dass schwer trennbare Gemische enantiomerer Produkte entstehen. Die Entwicklung neuer Konzepte ist daher unerlässlich.

Vor einigen Jahren haben Wissenschaftler um Prof. Manfred T. Reetz am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung einen grundsätzlich neuen Ansatz zur Entwicklung enantioselektiver Enzyme vorgeschlagen, die auf der "Evolution im Reagenzglas" beruht. Die Strategie besteht aus einer Kombination von molekularbiologischen Methoden zur Zufallsmutagenese und Gen-Expression mit einem effizienten Screening-System, das es ermöglicht, Tausende von enantioselektiven Mutanten sehr schnell zu durchsuchen. Dabei wird die beste Enzym-Mutante identifiziert und die entsprechende Gen-Mutante erneut der Mutagenese und einem anschließenden Screening unterworfen, ein Vorgang, der beliebig oft wiederholt werden kann. Kenntnisse der Struktur oder des Mechanismus des Enzyms sind hierzu nicht erforderlich, vielmehr verlässt man sich auf den evolutionären Verlauf des Prozesses.

Tatsächlich ist es den Forschern auf diesem Wege jetzt gelungen, die Enantioselektivität einer Lipase-katalysierten hydrolytischen Ester-Spaltung um einen Faktor von fast 50 zu erhöhen. Die Lipase-Mutante mit der höchsten Enantioselektivät enthält sechs Mutationen, das heißt sechs von den insgesamt 285 Aminosäuren wurden im Zuge eines darwinistischen Prozesses ausgetauscht. Verblüfft stellten die Forscher hierbei fest, dass die meisten Mutationsstellen weit weg vom aktiven Zentrum liegen. In Zusammenarbeit mit Walter Thiel, theoretischer Chemiker am gleichen Institut, gelang es ihnen schließlich, diesen ungewöhnlichen Effekt zu erklären: Die Mutationen führen zu einer neuen chemischen Bindungstasche und stabilisieren zugleich den Übergangszustand der Reaktion des bevorzugten Enantiomers.

In einem neuen Projekt haben die Forscher das Evolutionskonzept nun auf das für die synthetische Chemie wichtige Gebiet der Partialoxidation ausgedehnt. Dabei geht es um die gerichtete Evolution enantioselektiver Cyclohexanon-Monooxygenasen (CHMO), die Luftsauerstoff als Oxidationsmittel verwenden. Dabei gelang es, die Enantioselektivität der CHMO-katalysierten Baeyer-Villiger-Reaktion von 4-Hydroxycyclohexanon von 9 auf 90 Prozent zu steigern. Mit weiteren Substraten (andere Cyclohexanon-Derivate) wurden sogar Enantioselektivitäten von 95 bis 99 Prozent erzielt.

Die Mülheimer Max-Planck-Wissenschaftler haben auch die ersten Hochdurchsatz-Screening-Systeme für die rasche Erfassung der Enantioselektivität von Tausenden von Biokatalysatoren entwickelt. In ihrer neuesten Entwicklung setzen sie auf die Anwendung der tomographischen NMR-Spektroskopie bzw. des "chemical imaging".

Mit dem von Reetz und seinen Mitarbeitern entwickelten Konzept der gerichteten Evolution enantioselektiver Enzyme steht jetzt ein grundsätzlich neues und funktionstüchtiges Werkzeug zur Verfügung, mit dem hochselektive Biokatalysatoren für einen ökonomisch und ökologisch sinnvollen Einsatz in der Synthesechemie entwickelt werden können. Erste Anwendungen sind inzwischen in der chemischen Industrie bereits erfolgt (Degussa/Deutschland sowie Diversa/USA).

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