Makroskopische elektrische Polarisationen und Elektronen auf atomarer Skala
Neue Wege zu Verständnis und Optimierung ferroelektrischer Materialien
MBI Berlin
Vorgänge in der makroskopischen Welt werden durch die klassische Physik beschrieben, während Prozesse auf atomaren Längen- und Zeitskalen den Gesetzen der Quantenmechanik unterliegen. Der Zusammenhang zwischen mikroskopischen und makroskopischen physikalischen Größen ist nicht trivial und teilweise unverstanden.
Die elektrische Polarisation ist eine makroskopische Größe, die das Dipolmoment von Materie beschreibt. Polarisationen werden durch die Verteilung elektrischer Ladungen auf atomarer Skala in polaren und ionischen Materialien hervorgerufen, darunter die besonders interessante Gruppe der Ferroelektrika. Deren spontane elektrische Polarisation findet Anwendung in elektronischen Sensoren, Speichern und Schaltelementen. Der Zusammenhang zwischen Polarisationen, vor allem zeitabhängigen, und mikroskopischen Elektronenverteilungen ist von großer Bedeutung für das Verständnis und die gezielte Veränderung der ferroelektrischen Eigenschaften.
Auf der Grundlage eines neuen experimentellen und theoretischen Ansatzes haben Wissenschaftler des Max-Born-Instituts jetzt eine direkte quantitative Verbindung zwischen makroskopischen Polarisationen und zeitabhängigen mikroskopischen Elektronendichten hergestellt. Wie sie in der Zeitschrift Physical Review B berichten, löst in den Experimenten eine optische Anregung atomare Bewegungen aus, welche die Elektronenverteilung im Femtosekunden-Zeitbereich modulieren (1 fs = 10 hoch -15 Sekunden). Die Elektronendynamik wird durch zeitaufgelöste Röntgen-Pulverbeugung aufgezeichnet. Aus den Daten werden räumlich und zeitlich aufgelöste "Landkarten" der Elektronendichte abgeleitet, die mit Hilfe eines neuen theoretischen Konzepts eine Bestimmung der momentanen makroskopischen Polarisation gestatten. Die Methode wurde anhand von zwei prototypischen Ferroelektrika demonstriert.
Die theoretische Methode zur Beschreibung der ultraschnellen Dynamik von Ladung und Polarisation beruht auf einer Erweiterung von Ansätzen, die durch eine Betrachtung von Quantenphasen (Berry-Phase) stationäre makroskopische Polarisationen liefern. Wesentliche Schritte bestehen in der Berechnung mikroskopischer Stromdichten aus den zeitabhängigen Ladungsdichtekarten, wobei die kinetische Energie der Elektronen minimiert wird. Aus diesen so bestimmten mikroskopischen Stromdichten wird dann die makroskopische Polarisation bestimmt. Dieses Verfahren wird auf das Ferroelektrikum Ammoniumsulfat [(NH4)2SO4] angewendet. Als zweites prototypisches System wurde KDP [KH2PO4] untersucht. Die Analyse liefert die Absolutwerte der makroskopischen Polarisationsänderungen, die durch mikroskopische Schwingungen moduliert werden.
Die Ergebnisse etablieren die Röntgenbeugung im Ultrakurzzeitbereich als ideales Werkzeug zur Erfassung makroskopischer elektrischer Eigenschaften komplexer Materialien. Die besondere Bedeutung dieser neuen Erkenntnisse wird durch die Würdigung der Publikation als "Editor's Suggestion" unterstrichen.