Achtung, das Elektron ist zu schnell!

Warum liefern unterschiedliche Messungen von Materialeigenschaften manchmal unterschiedliche Ergebnisse?

02.09.2020 - Österreich

Ein Kolibri, der 50mal pro Sekunde mit den Flügeln schlägt, ist schwer zu fotografieren. Die Belichtungszeit muss deutlich kürzer sein als die charakteristische Zeitskala des Flügelschlags, sonst sieht man nur verschwommene Farbflecken. Mit einem ganz ähnlichen Problem hat man in der Festkörperphysik zu kämpfen: Dort möchte man die magnetischen Eigenschaften eines Materials bestimmen. Das magnetische Moment an einem bestimmten Ort kann sich allerdings sehr schnell ändern. Man braucht daher Messmethoden, mit denen sich diese Fluktuationen zeitlich auflösen lassen. Mit diesem Grundgedanken gelang es nun an der TU Wien in Zusammenarbeit mit Forschungsgruppen aus Würzburg (Deutschland), ein Rätsel der Festkörperphysik zu lösen.

Technische Universität Wien

Möglichst rasch messen: Auf Geschwindigkeit kommt es an - wenn man schnelle Bewegungsabläufe fotografieren möchte, oder wenn man magnetische Materialeigenschaften misst.

Magnetismus und Supraleitung

„Wenn man ein Material verstehen möchte, muss man seine magnetischen Eigenschaften verstehen“, sagt Prof. Alessandro Toschi vom Institut für Festkörperphysik der TU Wien, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster. „Sie sagen uns nicht nur, wie das Material auf Magnetfelder reagiert, sie hängen auch eng mit anderen Eigenschaften des Materials zusammen – zum Beispiel mit seinem elektrischen Verhalten.“ Besonders für die Suche nach Hochtemperatur-Supraleitern spielen magnetische Materialeigenschaften eine wichtige Rolle.

Allerdings stellte man immer wieder fest, dass unterschiedliche Messungen des Magnetismus bestimmter Materialien zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. „Manchmal erhielt man gar keine sinnvollen Ergebnisse, manchmal führten unterschiedliche Messmethoden zu widersprüchlichen Daten“, sagt Clemens Watzenböck (Institut für Festkörperphysik, TU Wien). „Dieses Rätsel konnten wir nun mit rein theoretischen Berechnungen lösen.“

Die Beweglichkeit der Elektronen

Das Team aus Wien und Würzburg konnte zeigen, dass die Beweglichkeit der Elektronen im Material darüber entscheidet, mit welchen Methoden sich die magnetischen Eigenschaften messen lassen. „Der Spin der Elektronen im Material verursacht ein magnetisches Moment, das ganz spontan fluktuiert. Diese magnetischen Fluktuationen entstehen durch die natürliche Bewegung der Elektronen. Daher kann das magnetische Moment durch die Bewegung der Elektronen auch rasch wieder ausgeglichen werden“, erklärt Toschi. „Je schneller sich die Elektronen im Inneren des Materials bewegen können, umso schneller können sie auch das Auftreten eines magnetischen Moments unsichtbar machen.“ 

Das bedeutet: Wenn es im Material einen Prozess gibt, der die Elektronen bremst – z.B., eine starke Streuung mit anderen Elektronen oder mit den vibrierenden Atomen des Materials, sodass sie sich nicht mehr besonders schnell im Kristall bewegen können – dann bleibt das entsprechende magnetische Moment deutlich länger messbar.

„Wir haben eine Methode entwickelt mit der man, durch verfeinerte theoretische Analysen und numerische Simulationen herausfinden kann, auf welcher typischen Zeitskala die magnetischen Momente in einem bestimmten Material abgeschirmt werden“, erklärt Watzenböck. Nur wenn man eine Messmethode hat, die auf einer kürzeren Zeitskala ein Ergebnis liefert, bleibt das magnetische Moment messbar. Dauert die Messung länger, erhält man nur ein verschwommenes Durchschnittsergebnis – ähnlich wie wenn man einen Kolibri mit langer Belichtungszeit fotografiert.

Eisen-Supraleiter

Diese Herangehensweise konnte das Forschungsteam auf die besonders wichtige Materialklasse der Eisen-basierten Supraleiter anwenden. „Wir konnten zeigen, dass sich die charakteristische Zeitskala der magnetischen Fluktuationen bei diesen Supraleitern je nach Material um eine Größenordnung unterscheidet – sie reicht von ungefähr 3 Femtosekunden bis zu etwa 30 Femtosekunden“, berichtet Clemens Watzenböck. 

Das erklärt, warum die Ergebnisse von inelastischen Neutronenexperimenten bei manchen Materialen gut interpretierbar sind und bei anderen nicht: Die Zeitskala solcher Neutronen-Experimente liegt bei etwa 10 Femtosekunden. Kurz genug für manche Materialien, aber zu lang für andere. Wenn man hingegen andere Messmethoden einsetzt, etwa Röntgenspektroskopie, die auf kürzerer Zeitskala abläuft, sollte das magnetische Moment all dieser Materialien gut sichtbar bleiben.

Die neuentwickelte Methode, charakteristische Zeitskalen von Materialien zu berechnen, kann nicht nur auf magnetische Eigenschaften angewandt werden, sondern auch auf andere wichtige Materialeigenschaften. „Wir gehen davon aus, dass unsere neue Methode in Zukunft sehr nützlich sein wird, um verschiedenste spektroskopische Experimente zu planen und richtig zu interpretieren“, sagt Alessandro Toschi. „Auf diesem Gebiet gibt es noch viele offene Fragen – mit unserer Methode wollen wir nun die Physik bekannter Materialien besser verstehen und sogar die Suche nach neuen, besseren Materialien, wie Supraleitern mit hohen kritischen Temperaturen, erleichtern.“

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