Materie auf neuen Wegen zur Selbstorganisation
Die Höhen und Tiefen des aktiven Bandes
© MPIDS
Sind nematische Materialien aus Mikrotubuli und Kinesinen aufgebaut, also aus Materialien, die sich in unseren Zellen befinden, werden sie aktiv und bewegen und verformen sich - ohne Zufuhr von Energie von außen. In einer neuen Arbeit, die in Nano Letters veröffentlicht wurde, berichten Forscher am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) in Göttingen über die Erfindung eines aktiven 3D nematischen Materials. Das Material durchläuft mehrere räumliche Formen, es schrumpft zu einem Band zusammen und bildet dann dreidimensionale Falten.
Vor etwa einem Jahrzehnt wurden die aktiven Nematen entdeckt. Sie werden als aktiv bezeichnet, weil das Material zur Neuorientierung keine externe Energiequelle benötigt, sondern seine interne Energiequelle mit sich führt und in der Lage ist, sie zu nutzen, um Bewegungen von innen heraus zu steuern. Die Materialien, die aktive Nematen bilden, stammen aus biologischen Zellen. In der Zelle sind Mikrotubuli und Kinesinmotoren wesentliche Bestandteile des Zytoskeletts, eines losen Netzwerks, das den Zellkern umgibt und der Zelle sowohl mechanische Steifigkeit als auch Bahnen zum Transport von Materialien verleiht.
Kinesine wandeln chemische Energie, die durch die Hydrolyse von Adenosin-Triphosphat (ATP) gewonnen wird, in mechanische Arbeit um, während sie entlang der Mikrotubuli "laufen". Sie transportieren lebenswichtige Moleküle innerhalb der Zelle und sind an der Zellorganisation und Zellteilung beteiligt. Außerhalb der Zelle können Mikrotubuli und Motorproteine ein anderes Verhalten annehmen: Während die Mikrotubuli nematisch ausgerichtet werden, werden sie durch Kinesine, angetrieben von ATP, unter mechanische Spannung gesetzt. Eine neue Klasse von weichen Materialien war geboren, die aktiven Nematen.
Aktive Nematen stellen ein faszinierendes Modellsystem dar, das uns hilft, die selbstorganisierenden Prozesse in der Zelle zu verstehen, und bietet eine ideale Struktur, um die Theorien der aktiven Materie zu testen und voranzutreiben. In der Vergangenheit wurden aktiven Nematen in zweidimensionalen Schichten untersucht, zum Beispiel zwischen Wasser und einem Öltröpfchen. Bei ausreichender Aktivität sind Motorproteine in der Lage, die Ordnung der ausgerichteten Mikrotubuli zu zerstören, was zur spontanen Musterbildung und zu einem als aktive Turbulenz bezeichneten Zustand führt, einem ständig bewegten chaotischen Zustand.
In der neuesten Ausgabe von Nano Letters berichten Isabella Guido und Kollegen vom MPIDS, wie sie die Einschränkung der Grenzflächenschichten überwinden und dreidimensionale aktive Nematen erzeugen konnten. "Es war nicht einfach, die vertraute zweidimensionale flache Geometrie zu verlassen. Man verdünnt das System unweigerlich und muss dann die richtige chemische Umgebung finden, die es immer noch erlaubt, die gewünschten aktiven Kräfte zu erzeugen", sagt Isabella Guido, die das experimentelle Forschungsteam in der Abteilung für Strömungsphysik, Musterbildung und Biokomplexität leitet, und fügt hinzu: "Es ist die Abfolge der Ereignisse, bei der ein unscheinbares Volumenmaterial plötzlich zu einem flachen Blatt zusammenschrumpfte, dann aber anfing, 3D-Muster zu erzeugen, die wir noch nie zuvor gesehen haben und die uns sehr erstaunt haben".
Tatsächlich entwickelt sich das System in Zeit und Raum weiter. Anstatt dreidimensional zu bleiben, d.h. das Volumen der Versuchskammer auszufüllen, fällt es zunächst zu einem flachen Band zusammen. In diesem Band verursachen die molekularen Motoren eine Druckspannung, die zu einer Instabilität und Faltenbildung führt. Danach wachsen die Falten so lange, bis das gefaltete Band auseinanderfällt und das gesamte Volumen wieder mit turbulenten Fäden füllt, die spontan wachsende Schleifen bilden, sich ständig auflösen und an anderer Stelle wieder neu bilden. "Diese Beobachtungen sind eine bemerkenswerte Darstellung dafür, wie Nicht-Gleichgewichtsaktivität in Verbindung mit der ausgeklügelten Dynamik von Systemen der weichen Materie zu neuen Wegen der Selbstorganisation führen kann", erklärte Ramin Golestanian, Direktor der Abteilung Physik der lebenden Materie. Die kooperierenden theoretischen Partner lieferten eine theoretische Erklärung für das beobachtete Verhalten und führten Computersimulationen durch, wie das System die beschriebenen Stadien durchläuft. Gruppenleiter Andrej Vilfan sagt: "Im Experiment sehen wir die Mikrotubuli, aber die Natur der Kräfte zwischen ihnen ist schwer zu verstehen. Die Kombination von Experimenten mit Computersimulationen hat uns ein neues Verständnisniveau ermöglicht. In der Tat zeigen wir, dass die meisten Motoren gegeneinander arbeiten. Im System besteht nur ein winziges Ungleichgewicht zwischen den Motoren, die in verschiedenen Richtungen arbeiten. Dieses Ungleichgewicht verursacht all die Phänomene, die wir beobachten".
Die Ergebnisse werden neue Erkenntnisse über die Organisation und die Krafterzeugung in biologischen Zellen bringen. „Unser Ziel ist es, mit synthetischen und biologischen Bausteinen Nachbildungen natürlicher Systeme zu schaffen. Wenn wir endlich herausfinden können, wie man die Bewegung in solchen vom Menschen geschaffenen aktiven Systemen steuern kann, haben wir das Potenzial, biomimetische Vorrichtungen zu entwickeln, die als Aktoren in zukünftigen biotechnologischen Anwendungen eingesetzt werden können“ sagt Eberhard Bodenschatz, Direktor der Abteilung Strömungsphysik, Musterbildung und Biokomplexität. "Wir beginnen nun, das neuartige Material in verschiedene Formen zu bringen und werden beobachten, zu welchen neuen Phänomenen dies führen kann. Wir sind sicher, dass spannende Entdeckungen auf uns warten“ sagt Isabella Guido abschließend.