Nach dem Vorbild der Natur: Muskeln für softe Roboter

Materialforschende steigern Bewegungsleistung von Hydrogel erheblich

08.09.2023
Julia Siekmann, Uni Kiel

Dr. Margarethe Hauck (rechts) und Lena Saure, Erstautorinnen der Studie, haben das Hydrogel im Labor an der Technischen Fakultät hergestellt.

In der Industrie werden Roboter aus Metall und anderen festen Materialien bereits vielfach eingesetzt. Doch für feinmotorische Tätigkeiten und die Interaktion mit Menschen wie in der Pflege oder Medizin sind sie zu starr und zu schwerfällig. An Robotern aus weichen Materialien wird daher bereits intensiv geforscht: Inspirationen aus der Natur, wie Quallen, Regenwürmer, Fische oder der menschliche Körper sollen „Soft-Roboter“ ermöglichen, die sich flexibel bewegen und an ihre Umgebung anpassen können.

© Margarethe Hauck

Ein Lichtstrahl macht das Material zum Greifer: Als Reaktion gibt das Hydrogel Wasser ab und zieht sich zusammen. Dabei umschließt es einen kleinen Gegenstand, den es auch wieder freigeben kann.

Ein Forschungsteam aus der Materialwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat jetzt ein neues Material basierend auf einem Hydrogel entwickelt, das ähnlich wie ein Muskel funktioniert. Das weiche Material lässt sich in kurzer Zeit kontrolliert verkleinern und wieder vergrößern und könnte so zum Beispiel Bewegungsaufgaben in der Softrobotik übernehmen. Das Team hat seine Ergebnisse kürzlich in der Fachzeitschrift Advanced Materials veröffentlicht.

Responsives Material reagiert auf Wärme

Hydrogele, wie sie beispielsweise in Kontaktlinsen eingesetzt werden, sind extrem elastisch. Sie bestehen fast komplett aus Wasser und ihre mechanischen Eigenschaften ähneln dem menschlichen Körpergewebe. Spezielle, sogenannte responsive Hydrogele können sich als Reaktion auf ihre Umwelt um bis zu 90 Prozent verkleinern. „Unsere Hydrogele sind thermoresponsiv, das heißt sie reagieren auf Wärme. Ab einer Temperatur von 32 °C geben sie Wasser ab und verringern so ihr Volumen“, erklärt Dr. Margarethe Hauck, eine der Erstautorinnen der Studie. Sinkt die Temperatur, nimmt das Hydrogel das Wasser wieder auf und kehrt zu seinem ursprünglichen Volumen zurück.

Der Prozess lässt sich beliebig oft wiederholen, was zu einer Art Bewegung führt. „Im Grunde haben diese Hydrogele das Potential, wie ein menschlicher Muskel zu funktionieren“, so Hauck, die zu dem Thema im Graduiertenkolleg „Materials for Brain“ promoviert hat. Das macht sie als weiche Antriebselemente für neuartige Softroboter interessant, wo sie als Aktoren eingesetzt werden könnten. Doch bislang dauerte der gesamte Prozess der Volumenänderung noch mehrere Wochen – viel zu langsam für die meisten praktischen Anwendungen.

Internes Kanalsystem transportiert Wasser besonders schnell

Mit verschiedenen Methoden versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit, das Volumen von solchen thermoresponsiven Hydrogelen schneller zu ändern. Die Kieler Materialforschenden bauten in ihr Hydrogel ein Netzwerk aus winzigen Röhren ein. „Damit lässt sich das Material deutlich schneller als bisher verkleinern und vergrößern, ohne an Stabilität zu verlieren. Im Gegenteil: Es kann sogar eine bis zu 4.000 Prozent höhere Kraft ausüben“, erklärt Lena Saure, Doktorandin am Lehrstuhl Funktionale Nanomaterialen und ebenfalls Erstautorin.

„Unser Ansatz folgt dem Vorbild der Natur“, sagt Materialwissenschaftler Dr. Fabian Schütt, Leiter der Studie und der Nachwuchsgruppe „Multiscale Materials Engineering" am Lehrstuhl. „Pflanzen und Tiere besitzen vernetzte, hierarchisch aufgebaute Kanalsysteme für einen effektiven Stoff- und Flüssigkeitstransport, wie das Kapillarsystem im Menschen. Nach diesem Prinzip können wir auch die Eigenschaften von weichen Materialien verbessern.“

Graphenbeschichtung ermöglicht elektrische Kontrolle

Durch die zahlreichen, miteinander verbundenen Röhren von wenigen Mikrometern Größe kann das Wasser ungehindert aus dem Hydrogel ab- und zufließen und ermöglicht so eine schnelle Änderung seines Volumens. Eine extrem dünne Graphenbeschichtung macht die Röhren außerdem elektrisch leitfähig. So können die Forschenden das Hydrogel mit elektrischem Strom erwärmen und den Wassertransport auf Knopfdruck steuern. „Dies ist ein entscheidender Aspekt, wenn es um die praktische Anwendung solcher weichen Aktoren geht“, betont Schütt. Damit dauert die gesamte Volumenänderung statt Wochen jetzt nur noch ein paar Stunden „Wir arbeiten natürlich daran, diesen Prozess weiter zu beschleunigen.“ Auch mit einem gerichteten Lichtstrahl sei es möglich, die Bewegung zu kontrollieren, ergänzt Lena Saure. „So funktioniert die Steuerung des Materials auch kabellos und sehr flexibel.“

Das Team kann das Hydrogel für verschiedene Anwendungen anpassen. Ein anderer Aufbau der inneren Röhren oder eine höhere oder niedrigere Konzentration des Graphens verändern zum Beispiel die Reaktionszeiten oder die ausgeübten Kräfte. Nicola Pugno, Professor für Festkörper- und Strukturmechanik an der Universität Trento, Italien, und zurzeit als Humboldt-Forschungspreisträger am Kieler Lehrstuhl zu Gast, berechnete, wie sich die Veränderung der Materialstruktur auf die Eigenschaften des Hydrogels auswirkt. Außerdem waren Kolleginnen und Kollegen des Helmholtz-Zentrums Hereon und der Technischen Universität Dresden an der Zusammenarbeit beteiligt.

Vor allem auch medizinische Anwendungen sind denkbar

„Zum ersten Mal können wir ein Hydrogel sowohl mit Geschwindigkeit als auch mit Kraft bewegen. Zusammen mit seinen responsiven Eigenschaften, mit denen es selbstständig auf äußere Reize reagiert, bringt uns das einen entscheidenden Schritt näher zu intelligenten leistungsfähigen Materialien für die Softrobotik“, hebt Professor Rainer Adelung, Leiter des Lehrstuhls und des Graduiertenkollegs, die Bedeutung der Ergebnisse hervor. Durch die gewebeähnlichen Eigenschaften des Hydrogels sind vor allem Anwendungen im medizinischen Bereich denkbar, wie in der Roboter-assistierten Chirurgie, in der künstlichen Gewebekonstruktion oder auch als Implantat für eine kontrollierte Wirkstofffreigabe im menschlichen Körper.

Originalveröffentlichung

Weitere News aus dem Ressort Wissenschaft

Meistgelesene News

Weitere News von unseren anderen Portalen

So nah, da werden
selbst Moleküle rot...