Natur der Supraleitung von wasserstoffreichen Verbindungen
Hochdruck-Elektronentunnelspektroskopie zeigt eine supraleitende Lücke in H₃S und D₃S
Forschenden ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Verständnis der Hochtemperatur-Supraleitung in wasserstoffreichen Materialien gelungen. Mit Hilfe einer Elektronen-Tunnelspektroskopie unter hohem Druck hat ein internationales Forscherteam unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für Chemie die Energielücke im supraleitenden H₃S gemessen – dem Material, für das im Jahr 2015 ein Rekord für Hochtemperatur-Supraleitung aufgestellt wurde und als Ausgangsverbindung für nachfolgende hochtemperatur-supraleitende Hydride dient. Die Ergebnisse, die diese Woche im Magazine Nature veröffentlicht wurden, liefern den ersten direkten mikroskopischen Nachweis für Supraleitung in wasserstoffreichen Materialien und sind ein wichtiger Schritt zu deren Verständnis.
Supraleiter sind Materialien, die Strom ohne Widerstand leiten. Das macht sie für Technologien wie Energieübertragung und -speicherung, Magnetschwebetechnik und Quantencomputer sehr interessant. Das Phänomen der Supraleitung wurde bisher jedoch meist weit unterhalb der Umgebungstemperatur beobachtet, was den breiten praktischen Einsatz einschränkt. Daher war die Entdeckung von wasserstoffreichen Verbindungen wie Schwefelwasserstoff (H₃S) und Lanthandecahydrid (LaH₁₀), die bei 203 Kelvin (-70 °Celsius) beziehungsweise bei 250 Kelvin (-23 °Celsius) supraleitend werden, ein bedeutender Fortschritt auf dem Weg zur Supraleitung bei Raumtemperatur. Da die Temperaturen, bei denen die Materialien supraleitend werden, weit über dem Siedepunkt von flüssigem Stickstoff liegen, sprechen Forschende von Hochtemperatur-Supraleitern.
Der Schlüssel zum Verständnis der Supraleitung liegt in der supraleitenden Energielücke – einer grundlegenden Eigenschaft, die Aufschluss darüber gibt, wie sich Elektronen zu Paaren verbinden, um den supraleitenden Zustand zu erreichen. Dieses Merkmal unterscheidet den supraleitenden Zustand gegenüber anderen metallischen Zuständen eines Materials.
Die Messung der supraleitenden Energielücke in wasserstoffreichen Materialien wie H₃S ist jedoch äußerst herausfordernd. Diese Verbindungen müssen unter extrem hohem Druck, der mehr als eine Million Mal höher ist, als der atmosphärische Druck, synthetisiert werden. Dadurch sind herkömmliche Techniken zum Nachweis der supraleitenden Energielücke wie die Rastertunnelmikroskopie nicht anwendbar.
Elektronen-Tunnelspektroskopie macht direkte Einblicke in den supraleitenden Zustand wasserstoffreicher Verbindungen möglich
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz entwickelten daher eine spezielle planbare Elektronen-Tunnelspektroskopie, die auch unter solchen extremen Bedingungen eingesetzt werden kann. Damit gelang es ihnen erstmals, die supraleitende Energielücke in H₃S zu ermitteln und so direkt Einblicke in den supraleitenden Zustand wasserstoffreicher Verbindungen zu gewinnen.
Die Forschenden entdeckten, dass H₃S eine vollständig offene supraleitende Energielücke in Höhe von etwa 60 Millielektronenvolt (meV) aufweist, während sein Deuterium-Analoge D₃S eine Lücke von etwa 44 meV zeigt. Das Wasserstoffisotop Deuterium wird auch als schwerer Wasserstoff bezeichnet und besitzt ein Neutron mehr. Die Tatsache, dass die Energielücke in D₃S kleiner ist als in H₃S, stützt eine langjährige theoretische Vorhersage: Sie besagt, dass die Wechselwirkungen von Elektronen und Phononen – das sind quantisierte Schwingungen des Atomgitters eines Materials – den Supraleitungsmechanismus von H₃S verursacht.
Für die Mainzer Forschenden ist ihre Entdeckung mehr als nur eine technische Errungenschaft, da sie auch den Grundstein legt, um den Ursprung der Hochtemperatur-Supraleitung in wasserstoffreichen Materialien vollständig zu entschlüsseln. „Wir hoffen, dass es durch die Ausweitung dieser Tunneltechnik auf andere Hydrid-Supraleiter gelingt, die Schlüsselfaktoren für die Supraleitung bei noch höheren Temperaturen zu identifizieren. Das sollte letztlich die Entwicklung neuer Materialien ermöglichen, die unter praktischeren Bedingungen eingesetzt werden können“, sagt Feng Du, Erstautor der jetzt erschienenen Studie.
Dr. Mikhail Eremets, ein Pionier auf dem Gebiet der Hochdruck-Supraleitung, der im November 2024 verstarb, bezeichnete die Studie als „die wichtigste Arbeit auf dem Gebiet der Hydrid-Supraleitung seit der Entdeckung der Supraleitung in H₃S im Jahr 2015“. „Mikhails Vision von Supraleitern, die bei Raumtemperatur und moderatem Druck funktionieren, rückt durch diese Arbeit einen Schritt näher an die Realität“, kommentiert Vasily Minkov, Projektleiter für Hochdruckchemie und -physik am Max-Planck-Institut für Chemie.