Japan will mit Meerwasser Atom-Katastrophe abwenden

Borsäure soll Kettenreaktion verhindern

14.03.2011 - Japan

(dpa-AFX) Nach dem Jahrhundertbeben in Japan versuchen Fachleute in einen Wettlauf gegen die Zeit, eine nukleare Katastrophe abzuwenden. In sechs Reaktoren an der Ostküste fiel die Kühlung aus. Am gefährlichsten ist die Lage im Atomkraftwerk Fukushima Eins. Dort pumpten Experten seit Samstagabend ein Gemisch aus Meerwasser und Borsäure in den Reaktor Nummer 1. Bor kühlt den Reaktor zusätzlich ab. Damit soll eine Kernschmelze verhindert werden, die so schlimm wie der Atomunfall 1986 in Tschernobyl in der Ukraine sein könnte. Eine ähnlich dramatische Entwicklung drohte in einem zweiten Reaktor in Fukushima Eins.

Ob eine teilweise oder vollständige Kernschmelze bereits im Gang ist oder war, blieb weiter unklar. Nach Angaben von Hisanori Nei von der Atomsicherheitsbehörde wird die Möglichkeit als groß angesehen, dass es in dem AKW Fukushima Eins schon vor der Explosion vom Samstag zu einer teilweisen Kernschmelze gekommen ist. Es sei das erste Mal, dass in Japan zu einer Kernschmelze kam, wie die japanische Nachrichtenagentur Jiji Press weiter berichtete.

Kühlung in weiterem Reaktorblock ausgefallen

In dem Gebiet um die beiden Atomkraftwerke in Fukushima mussten bis Sonntagmorgen rund 200.000 Menschen ihre Häuser verlassen. Mit der Evakuierung will die Regierung die Bewohner vor radioaktiver Strahlung schützen. Die Regierung in Tokio rief große Unternehmen auf, Strom zu sparen.

In der Nacht zu Sonntag fiel in einem weiteren Reaktorblock des Kraftwerks Fukushima Eins die Kühlung aus, berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo. Damit waren sechs der insgesamt zehn Reaktoren in den beiden Kraftwerken Eins und Zwei ohne Kühlung. In dem neuen Problemreaktor - mit der Nummer 3 - ließen Experten zeitweise radioaktiven Dampf nach außen ab. Es werde Wasser zum Abkühlen der Brennstäbe eingeführt, sagte Regierungssprecher Yukio Edano am Sonntag. Die Radioaktivität in diesem Reaktor sei aber gering und unter Kontrolle.

Japanische Techniker hatten schon zuvor aus anderen Reaktoren Dampf und Luft entweichen lassen. Denn durch den Ausfall der Kühlung nach den Erdbeben steigen Temperatur und Druck in den AKW.

Unterschiedliche Aussagen zu Kernschmelze

Der japanische Ministerpräsident Naoto Kan zeigte sich zwar besorgt über die Lage, sprach aber nicht von einer Kernschmelze. Allerdings hatte die Atomsicherheitskommission schon vor der Explosion erklärt, in dem Reaktor laufe möglicherweise eine Kernschmelze ab. Die japanische Behörde sprach von einer teilweisen Kernschmelze, wie Kyodo meldete - das wäre der erste Fall dieser Art in Japan.

Die Zahl der Menschen, die in der Nähe der Kraftwerke insgesamt verstrahlt wurden, stieg laut Kyodo auf mehr als 20. Diese Zahl könnte aber nach anderen Angaben auch schon höher liegen. Besonders dramatisch war die Lage am Sonntag weiterhin am Reaktor 1 des Kraftwerks Fukushima Eins. Bei einer Explosion wurde dort am Samstag ein Teil des Gebäudes zerstört. Der innere Reaktorbehälter sei aber nicht beschädigt, teilte der Betreiber TEPCO mit.

Borsäure soll Kettenreaktion verhindern

In der Nähe des Atomkraftwerks sei radioaktives Cäsium festgestellt worden, berichtete die japanische Atomsicherheitskommission. Die Strahlungswerte sollen erst gestiegen und dann wieder gesunken sein. Am Sonntag meldete Kyodo unter Berufung auf die Betreiber, die Radioaktivität liege über dem Grenzwert.

Techniker von TEPCO (Tokyo Electric Power Company) leiteten seit Samstag ein Gemisch aus Meerwasser und Borsäure in den Reaktor. Bor "fängt" Neutronen und trägt dazu bei, die Kettenreaktion in einem Atomreaktor zu stoppen. Es ist so etwas wie eine Notbremse für einen Reaktor. Das Auffüllen mit dem Wasser-Säure-Gemisch im Reaktorkern sollte bis zu zehn Stunden dauern. Bis zum Ende der Aktion könnten zehn Tage vergehen.

Zahl der Todesopfer wird steigen

Bei dem Erdbeben und dem anschließenden Tsunami kamen in Japan vermutlich mehr als 2.000 Menschen ums Leben. Die Zahl ergibt sich aus den offiziell gemeldeten Toten von rund 800 und den Vermissten. Das berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf Angaben der Polizei vom Sonntag. Allerdings wird erwartet, dass die Zahl der Todesopfer noch weiter steigt.

Unterdessen arbeiten die Rettungskräfte auf Hochtouren. 390.000 Menschen sind nach Medienberichten vor den verheerenden Zerstörungen der Naturkatastrophe geflohen. In fünf Provinzen des Landes wurden mehr als 1400 Notlager - unter anderem in Schulen und Gemeindehäusern - eingerichtet. Vielerorts werde mit Tankwagen Trinkwasser herangeschafft. Augenzeugen berichten von Hamsterkäufen in Supermärkten. Die Regierung will die Zahl der Soldaten zur Unterstützung der Rettungseinsätze auf 100.000 verdoppeln, wie Medien berichteten.

Internationale Hilfe - Diskussion über Kernenergie

Rund 70 Staaten boten der japanischen Regierung Hilfe an. Aus Deutschland trafen Sonntag Helfer des THW in Tokio ein. Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Christian Wulff sagten Unterstützung zu. Das Auswärtige Amt riet von nicht erforderlichen Reisen in den Großraum Tokio und den Nordosten Japans ab.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte als Konsequenz aus dem Vorfall die Überprüfung der Sicherheitsstandards bei den deutschen Atomkraftwerken an. "Die Geschehnisse in Japan, sie sind ein Einschnitt für die Welt", sagte Merkel am Samstagabend in Berlin. Die Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke erinnerten an die jüngste Laufzeitverlängerung für deutsche Atommeiler und betonten, die Kernkraft sei auch hierzulande nicht beherrschbar.

Ereignisse erinnern an Harrisburg

Das gewaltige Beben hatte Japan am Freitag erschüttert. Seitdem gibt es viele Nachbeben. Nach revidierten Angaben hatte das Großbeben eine Stärke von 9,0. Das gab die Meteorologische Behörde in Tokio am Sonntag bekannt. Zuvor hatte sie die Stärke mit 8,8 beziffert, während US-Seismologen 8,9 gemessen hatten.

Die Ereignisse in Japan erinnern unter anderen an den Störfall im US-Kraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg 1979. Damals kam es in dem AKW in Pennsylvania zu einer teilweisen Kernschmelze. Auf der sogenannten INES-Skala wurde er mit der Schwere 5 eingestuft. Der weit dramatischere Reaktorbrand in Tschernobyl sieben Jahre später hatte die höchste Stufe 7.

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