Wenn‘s beim Wachsen knistert

Wenn Tropfen oder Staubteilchen verschmelzen, gelten oft ähnliche Gesetze wie beim Knistern eines Papiers

05.08.2013 - Deutschland

Ob bei Öltröpfchen in homogenisierter Milch, Staubteilchen im frühen Sonnensystem oder kleinsten magnetischen Bezirken in Ferromagneten − in vielen Fällen, in denen sich Teile zu einem Ganzen zusammenballen, gilt: Gleich und gleich gesellt sich gern. Oder richtiger: gleichgroß und gleichgroß. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, der Universität Göttingen und der Azarbayjan Shahid Madani Universität in Iran konnten nun erstmals zeigen, dass es bei solchen Wachstumsprozessen ‚knistert’. Gemeint ist folgendes: Die einzelnen Teile machen beim Wachstum immer wieder Sprünge, deren Größe zufällig verteilt ist. Diese Zufälligkeit folgt denselben statistischen Gesetzen wie die Schwankungen der Lautstärke, die ein knisterndes Blatt Papier erzeugt. Die neuen Berechnungen helfen unter anderem auch zu verstehen, wie Ferromagnete nach und nach magnetisieren.

© MPI für Dynamik und Selbstorganisation

Gleich und gleich gesellt sich gern: In vielen Fällen, in denen sich wie hier beim Wachstum von Tropfen Teile zu einem Ganzen zusammenballen, verschmelzen bevorzugt Teile von ähnlicher Größe.

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Knüllt man ein Papier zusammen, knistert es: Es tritt eine breite Spanne lauter und leiser Geräusche auf. Rechts: Auch die Kantenlängen des wiederaufgefalteten Papiers folgen der „Knisterverteilung.“

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Wenn ein Glas vom Tisch fällt und auf dem Boden zerschellt, ist das – aus Sicht des Physikers – nicht ärgerlich, sondern vor allem hochinteressant. Denn die Bruchstücke, die dabei entstehen, sind alle ähnlich groß: Einige große Scherben hebt man mit der Hand auf; bei den etwas kleineren greift man zu Schwammtuch oder Staubsauger. Mikroskopisch kleine Splitter finden sich hingegen so gut wie nie. „In vielen Wachstumsprozessen, die uns in der Natur begegnen, spielt sich dieser Prozess sozusagen rückwärts ab“, erklärt Jan Nagler, Forscher am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. „In erster Linie vereinigen sich Teilsysteme ähnlicher Größe, um ein neues Ganzes zu bilden.“

Doch wie wachsen diese Systeme genau? „Unsere Rechnungen haben gezeigt, dass solche Wachstumsprozesse ,knistern‘ “, fasst Nagler die Ergebnisse der neuen Studie zusammen und schlägt ein Gedankenexperiment vor: „Nehmen wir an, eine Gruppe etwa gleichgroßer Tropfen würde Schritt für Schritt verschmelzen und bei jedem Schritt einen Ton von sich geben: einen leisen Ton, wenn der größte Tropfen, der dabei entsteht, nur wenig wächst; einen lauten Ton, wenn der größte Tropfen einen erheblichen Wachstumsschub macht.“

Eine Art Symphonie des Wachsens

Das Wachsen der Tropfen wird dann von einer Abfolge von Tönen verschiedener Lautstärke begleitet – einer Art Symphonie des Wachsens. „Das Geräusch, das so entsteht, ist ein Knistern. Es ähnelt dem eines Papiers, das in der Hand zerknüllt wird“, so Nagler.

„Jeder von uns hat das – ob aus Wut, Frustration oder zum Zeitvertreib − schon tausendmal gemacht“, so Malte Schröder, Masterstudent an der Universität Göttingen. Doch es lohne sich, dabei einmal ganz genau hinzuhören, fügt er hinzu. Denn beim Zerknüllen treten sowohl laute als auch deutlich leisere Geräusche auf, ähnlich wie bei einem knisternden Feuer. Leises Knistern wird manchmal durch ein sehr lautes Knacken unterbrochen. In beiden Fällen decken die Lautstärken eine breite Spanne ab.

Diese Verteilung beschreibt, was Physiker unter ‚Knistern‘ verstehen – und sie tritt längst nicht nur in Zusammenhang mit Geräuschen und Lautstärken auf. „Faltet man das zerknüllte Blatt wieder auf, so zeigt sich ein komplexes Muster aus langen und kürzeren Faltkanten“, so Nagler. Auch die Verteilung dieser Längen folgt dem „Knistergesetz“. Dasselbe gilt für die Stärke von Erdbeben oder Sonneneruption – und eben auch für die Wachstumssprünge beim Zusammenballen von Teilsystemen.

Die Bandbreite der möglichen, zufällig verteilten Wachstumssprünge nimmt dabei mit der Größe des Gesamtsystems zu. Das macht die Vorhersage in großen Systemen wesentlich schwieriger als in kleinen − und damit auch relevant für Materialien, die aus unzählig vielen Untersystemen bestehen, wie die Atome eines Magneten oder die unzähligen Knoten und Verbindungen in einem Netzwerk.

In Magneten dehnen sich die magnetischen Gebiete sprunghaft aus

In ihren Simulationen spielten die Forscher am Computer verschiedene Wachstumsprozesse durch. Dabei ging es ihnen weder um Öltröpfchen noch um Staubpartikel, sondern um eine allgemeine Beschreibung eines solchen Wachstumsvorgangs. Einzige Bedingung: Die Teilsysteme, die sich verbinden, müssen von ähnlicher Größe sein. „Mathematisch lassen sich solche Wachstumsprozesse gut im Rahmen einer neuen Netzwerktheorie beschreiben“, so Schröder. Das kleinstmögliche Subsystem wird durch einen Knoten symbolisiert. Vereinigen sich zwei Subsysteme, entsteht zwischen den Knoten eine Verbindungslinie – und so nach und nach ein Netzwerk.

In einem zweiten Schritt wandten sich die Forscher einem ganz konkreten System zu: ferromagnetischen Stoffen wie etwa Eisen, Nickel und Kobalt. Berührt man diese Stoffe mit einem Magneten, werden sie auch magnetisch. Im Inneren dieser Stoffe finden sich mikroskopische Gebiete, so genannte Weiß’sche Bezirke, die durch den Einfluss von außen nach und nach magnetisiert werden. Auf diese Weise entstehen immer größere zusammenhängende magnetische Gebiete und die Gesamtmagnetisierung steigt deshalb sprunghaft an.

„Da die Weiß’schen Bezirke alle von ähnlicher Größe sind, trifft unser Modell auch hier gut zu“, so Nagler. „Das sprunghafte Ansteigen der Magnetisierung und vor allem die Verteilung dieser Sprünge lässt sich mit unseren Rechnungen gut reproduzieren.“

In einem nächsten Schritt wollen die Forscher nun weitere Systeme identifizieren, welche die nötigen Voraussetzungen für knisterndes Wachstum mitbringen. Denkbar ist vieles – von Öltröpchen auf einer langsam verdampfenden Wasseroberfläche bis hin zu Fusionen etwa gleich großer Unternehmen in der Ökonomie.

 

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