Wenn der Donut zum Apfel wird
Anastasia Varlet arbeitet als Doktorandin in der Forschungsgruppe von ETH-Professor Klaus Ensslin am Laboratorium für Festkörperphysik. Ihr gelang es, zwei Forschungspapers in der amerikanischen Fachzeitschrift «Physical Review Letters» hintereinander zu publizieren. Beide Arbeiten stützen sich auf Messungen am selben elektronischen Bauelement, einer Sandwichkonstruktion mit Graphen – einem Material aus Kohlenstoff, das eine bienenwabenförmigen Schicht bildet, die nur ein Atom dick ist. Einlagiges Graphen ist extrem stabil, elastisch und leitfähig. Besonders interessant für elektronische Anwendungen wird das «Wundermaterial», wenn man zwei Schichten übereinander legt. Das doppellagige Graphen wird zum Halbleiter, mit dem sich elektronische Schalter konstruieren lassen.
Die Qualität von Varlets Bauelement aus doppellagigem Graphen war so gut, dass die Forscherin bei ihren Messungen ein völlig unerwartetes Resultat erzielte. «Wir konnten einen sogenannten Lifshitz-Übergang nachweisen», sagt sie. Um zu erklären, worum es sich dabei handelt, greifen die Physiker zu Kaffeetasse und Wasserglas. Die Tasse hat einen Henkel mit einem Loch. Daher ist es möglich, ein geometrisch definiertes Objekt von der Form einer Tasse mit mathematischen Funktionen in einen Donut zu verformen. Auch ein solcher besitzt ein Loch. Ein Glas hingegen lässt sich wegen des fehlenden Lochs nicht in einen Donut verformen. Mathematisch gesprochen hat eine Tasse dieselbe Topologie wie ein Donut. «Ein Glas hingegen ist topologisch das Gleiche wie ein Apfel», erklärt Ensslin.
Verändert man die Topologie eines Objekts, kann man dessen Zweckmässigkeit verbessern, zum Beispiel wenn man einen Becher in eine Tasse mit Henkel verwandelt. Eigentlich ist das gar nicht möglich. Dennoch gelang nun genau dies den ETH-Forschern mit Hilfe von doppellagigem Graphen. Denn ein Lifshitz-Übergang ist ein Wechsel von einer Topologie zu einer anderen. Benannt ist er nach einem russischen Physiker, der diese Möglichkeit 1960 vorausgesagt hat. Allerdings geht es dabei nicht um Objekte in unserer normalen Umgebung. Vielmehr untersuchen die Physiker bei elektronischen Materialien eine abstraktere Topologie von Flächen, mit denen die Energiezustände der Elektronen beschrieben werden. Insbesondere betrachten die Forscher Flächen konstanter Energie, denn diese bestimmen die Leitfähigkeit des Materials und damit deren Anwendungspotential.
Drei Inseln im See
Um das mathematische Konzept dieser Energieflächen anschaulich zu machen, greift Ensslin wieder zu einem Vergleich: «Man kann sich eine hügelige Landschaft vorstellen, bei der sich die Täler mit elektrischen Ladungen füllen, wie wenn bei Regen das Wasser zwischen den Hügeln steigt.» So wird aus einem anfänglichen Isolator ein leitendes Material. Hört es auf zu regnen, hat das Wasser einen See gebildet, aus dem einzelne Berge wie Inseln herausragen. Genau dies beobachtete ETH-Doktorandin Varlet beim Experiment mit dem doppellagigen Graphen: Bei geringem Wasserstand gibt es drei voneinander unabhängige aber äquivalente Seen. Mit zunehmendem Wasserstand verbinden sich die drei Seen zu einem grossen Ozean. «Die Topologie hat sich völlig geändert», schliesst Varlet. So, als wäre aus dem Donut ein Apfel geworden.
Bisher fehlte das richtige Material, dass Wissenschaftler einen solchen Lifshitz-Übergang im Experiment zeigen konnten. Metalle eignen sich für den Nachweis nicht. Und auch das ETH-Team war sich zuerst gar nicht bewusst, dass es einen solchen gefunden hatte. «Wir beobachteten in unseren Messungen mit der Graphen-Sandwichkonstruktion etwas Seltsames, das wir nicht erklären konnten», sagt Varlet. Bei Diskussionen konnte ein russischer Theoretiker, Vladimir Falko, ihre Messungen deuten.
Billiges Rohmaterial
Zur Herstellung ihrer Sandwichkonstruktion umschloss Varlet die beiden Graphenschichten mit zwei Lagen aus Bornitrid, einem Material, das sonst zu Schmierzwecken verwendet wird und eine extrem glatte Oberfläche hat. Beide Stoffe sind billig, doch die erforderliche Arbeit im Reinraum ist aufwendig. Nur wenn die verwendeten Kohlenstoffflocken äusserst sauber sind, lässt sich daraus ein funktionierendes Bauelement fabrizieren. «Ein Grossteil meiner Arbeit besteht in der Reinigung unseres Graphens», sagt Varlet. Das Besondere an ihren Proben sei, dass diese gigantisch starken, elektrischen Feldern standhielten, sagt ihr Chef. Erst so wurden die jetzt publizierten Arbeiten möglich.
Über eine praktische Anwendung des beobachteten Phänomens lässt sich zurzeit nur vage spekulieren. So ist die Topologie von Quantenzuständen eine Möglichkeit, diese von ihrer Umgebung zu entkoppeln und damit eventuell besonders stabile Quantenzustände zu realisieren, die dann für Informationsverarbeitung nützlich sein könnten. Doch einstweilen geht es den Forschern vor allem um das bessere Verständnis der Bauelemente aus doppellagigem Graphen.
Nationale und europäische Zusammenarbeit
Das Team ist Teil des Forschungsverbundes Quantum Science and Technology (QSIT) an dem neben der ETH Zürich auch Gruppen von den Universitäten Basel, Lausanne und Genf sowie von IBM mitwirken. Klaus Ensslin ist Direktor dieses Nationalen Forschungsschwerpunkts. Sein Team ist auch am EU-Projekt «Graphene Flagship» beteiligt. «Dabei geht es um die Entwicklung völlig neuer Materialien», sagt der ETH-Professor. Im Vordergrund stehen Strukturen, die aus verschiedenen dünnsten Schichten aufgebaut sind, wie das Element von Anastasia Varlet.
Originalveröffentlichung
Varlet A, Bischoff D, Simonet P, Watanabe K, Taniguchi T, Ihn T, Ensslin K, Mucha-Kruczyński M, Falko VI: Anomalous Sequence of Quantum Hall Liquids Revealing a Tunable Lifshitz Transition in Bilayer Graphene. Physical Review Letters 2014, 113: 116602.
Varlet A, Liu MH, Krueckl V, Bischoff D, Simonet P, Watanabe K, Taniguchi T, Richter K, Ensslin K, Ihn T: Fabry-Pérot Interference in Gapped Bilayer Graphene with Broken Anti-Klein Tunneling. Physical Review Letters 2014, 113: 116601.