Nach Higgs nun Susy?
Cern-Forscher auf der Spur der Supersymmetrie
(dpa) Bei diesen Superlativen schlagen Forscherherzen schneller: der größte Teilchenbeschleuniger, die komplexeste Maschine der Welt. Und die «coolste». Auf 1,9 Kelvin - minus 271,25 Grad Celsius - werden die supraleitenden Magnete des Large Hadron Collider (LHC) heruntergekühlt. Das ist nötig, damit in der 27 Kilometer langen unterirdischen Vakuumröhre zwischen dem französischen Jura und dem Genfer See Elementarteilchen dank der nie zuvor erreichten Energie von 13 Teraelektronenvolt fast tausendmal stärker als bisher beschleunigt und aufeinander losgejagt werden können.
Davon versprechen sich die Wissenschaftler am Europäischen Kernforschungszentrum (Cern) neuartige Teilchenkollisionen, aus deren Zerfallsprodukten sensationelle Erkenntnisse über die Struktur des Universums gewonnen werden könnten. Mit dem in zweijähriger Arbeit umfassend modernisierten LHC gibt es nicht nur größere Chancen, Schwestern oder Brüder des vor knapp drei Jahren im LHC entdeckten Higgs-Teilchens zu finden.
«Vielleicht gelingt uns der Aufbruch in das dunkle Universum», sagt der deutsche Cern-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer. Und seine designierte Nachfolgerin, die maßgeblich an der Entdeckung des Higgs-Teilchens beteiligte italienische Physikerin Fabiola Gianotti, fügt hinzu: «Dieser enorme Energieschub gibt uns viel größere Möglichkeiten, fundamentale Fragen der Menschheit nach dem Wesen des Universums zu beantworten, darunter Fragen nach der Beschaffenheit der Dunklen Materie.»
Das Higgs-Boson ist ein wichtiger Baustein im Standardmodell der Materie. Es ist jenes Teilchen, das allen anderen Masse verleiht, ohne die sie wie Irrlichter durchs All schwirren würden. Blieben sie masselos, gäbe es keine Materie. Laien erklärt Heuer das gern so: «Sie und ich würden ohne dieses Teilchen nicht hier sitzen, es gäbe uns gar nicht.»
Seine Existenz hatten vor einem halben Jahrhundert der Brite Peter Higgs und der Belgier François Englert vorausgesagt. Nachdem ihre Theorie bewiesen wurde, erhielten sie 2013 den Physik-Nobelpreis. Bei den Experimenten mit dem neuen LHC geht es um wissenschaftliche Triumphe in ähnlicher oder gar noch größerer Dimension.
Seit das letzte Puzzleteil im Standardmodell der Materie nachgewiesen wurde, hoffen Forscher auf Entdeckungen, die weiterführende, teils erheblich kompliziertere Theorien über die Zusammensetzung und Funktionsweise des Universums bestätigen oder auch klar widerlegen.
Dazu gehört die Supersymmetrie, kurz «Susy». Diese Theorie würde Lücken im Standarmodell und damit im Verständnis der Grundlagen unserer Welt schließen helfen - wenn sie sich denn bestätigen ließe. Das wiederum würde den Weg weisen in völlig unerkundete Weiten: «95 Prozent des Universums verstehen wir nicht, das sind Dunkle Materie und Dunkle Energie», sagt Gianotti. «Wir schauen, was wir mit dem LHC entdecken werden und überlegen dann, was dies für künftige Theorien zum Aufbau der Welt bedeutet.»
Mit den Cern-Experimenten beschäftigen sich weltweit Tausende Wissenschaftler. Deutschland trägt 20 Prozent des Cern-Budgets von jährlich einer Milliarde Franken (935 Millionen Euro). Da stellen Haushaltspolitiker schon mal Fragen nach dem Nutzwert. Doch ohne Grundlagenforschung wären viele praxistaugliche Entdeckungen kaum möglich. Nuklearmedizinische Diagnostik ist ohne Erkenntnisse am Cern unvorstellbar. Und das World Wide Web, ohne das es kein Internet gäbe, war ein Nebenprodukt der Cern-Forschung.
Fragen nach dem Nutzen der Grundlagenforschung beantwortet Heuer gern mal mit einer Anekdote: Als der englische Physiker Michael Faraday (1791-1867) einst von Schatzkanzler William Gladstone gefragt wurde, was für einen Nutzen die Erforschung der Elektrizität überhaupt habe, soll er gesagt haben: «Ich habe keine Ahnung, Sir. Aber ich bin sicher, Ihre Nachfolger werden schöne Steuern darauf eintreiben.»