Eine unwahrscheinliche Anziehung
Die Grenzfläche zwischen Luft und Wasser ist negativ geladen. Im Wasser gelöste, negativ geladene Nanoteilchen sollten deshalb von der Wasseroberfläche abgestossen werden. Doch Forscher der ETH Zürich und des Paul Scherrer Instituts (PSI) beobachteten genau das Gegenteil: Je grösser die negative Ladung der Nanoteilchen war, umso näher befanden sie sich an der Grenzfläche. «Für unsere Experimente haben wir eine Wasserpistole benutzt, wie man sie als Spielzeug kennt», erklärt Gruppenleiter Matthew Brown vom ETH-Departement für Materialwissenschaften. «Allerdings ist der Durchmesser unserer Pistole weniger als ein Haar breit.» Und um zu untersuchen, was an der Strahloberfläche passiert, verwendeten die Forscher eine Grossanlage, die «Synchrotron Lichtquelle Schweiz» (SLS) am PSI in Villigen, die besonders intensives Röntgenlicht erzeugt.
In ihren Experimenten mischen die Forscher dem Wasser Siliciumdioxid-Nanoteilchen bei. Eine Pumpe befördert die Flüssigkeit zur Düse, durch die der nur wenige Mikrometer breite Strahl austritt. Die Versuchsanordnung wird am Synchrotron in Villigen in einer Messkammer installiert, die unter Vakuum steht. Die Flüssigkeit muss mit grosser Geschwindigkeit aus der Düse spritzen. «Nur so haben wir einen durchgehenden, frei fliessenden Wasserstrahl», sagt der Materialwissenschaftler. «Denn wenn der Wasserstrahl stoppt, gefriert er sofort.» Die Schwierigkeit ist denn auch, diesen Mikrojet stabil zu halten. Treffen Röntgenstrahlen darauf, schlagen sie Elektronen aus der Strahloberfläche, die Rückschlüsse auf das Material erlauben. «Einmal an diesem Punkt angelangt, ist unser Versuch ein normales Festkörperphysik-Experiment», erklärt Matthew Brown.
Internationales Team
Mit Hilfe der Röntgenphotoelektronenspektroskopie gelang es den Forschern, die Verteilung der Nanopartikel auf der Grenzfläche zwischen Luft und Wasser zu bestimmen. Auf der Skala von nur wenigen Atomradien konnten sie kleine Unterschiede in der Nanopartikelverteilung an der Grenzfläche erfassen, welche sie auf Ladungsunterschiede der Nanopartikel zurückführen konnten. «Wir sind bisher die einzige Gruppe, der dies gelungen ist», sagt Matthew Brown, insofern sei dies ein einzigartiges Experiment. Wie gross das Interesse der Fachwelt an dieser Arbeit ist, merkte der ETH-Forscher, als er nach Theoretikern suchte, welche die gemessenen Daten interpretieren sollten. Kollegen in Schweden, den USA und Kanada seien begeistert gewesen über die Messresultate und hätten ihre Beteiligung am Projekt sofort zugesagt, erzählt Matthew Brown.
Und wie lässt sich die unwahrscheinliche Anziehung zwischen negativ geladenen Nanoteilchen und negativ geladener Grenzfläche erklären? «Das ist kompliziert, aber gleichzeitig völlig logisch», sagt der Gruppenleiter. Die Nanopartikel haben ein starkes elektrisches Feld, das eine komplexe Umverteilung von Wasserionen auslöst, so dass die Ladung am Übergang von Luft und Wasser von negativ zu positiv umschlägt. Das elektrische Potential eines Teilchens könne ein halbes Volt betragen, ergänzt Matthew Brown: «Das ist sehr, sehr viel.» Damit könne das Teilchen die Struktur einer Grenzfläche mühelos verändern.
Vielfältige Anwendungen
Der Übergang von Luft zu Wasser ist die grösste Grenzfläche auf der Erde. Die Forscher hoffen deshalb, dass ihre Ergebnisse weitere grundlegende Erkenntnisse ermöglichen. Ihre Resultate treffen aber auch für Grenzflächen zwischen Öl und Wasser zu oder lassen sich auf Blasen in Emulsionen anwenden, wie sie zum Beispiel in Kosmetikprodukten, Yoghurt oder Farbstoffen auftreten. Dabei stabilisieren jeweils bestimmte Partikel die Luft in der Flüssigkeit. «Uns interessieren die Grundlagen dieses Prozesses», erklärt Matthew Brown: «Was treibt die Teilchen an die Grenzfläche, und was hält sie dort?» Aufgrund dieser Kenntnisse lassen sich dereinst vielleicht mit massgeschneiderten Teilchen bestimmte Materialeigenschaften auf mikroskopischer Ebene bestimmen.
Mit ihrer neu entwickelten Messmethode wollen die Forscher jetzt sogar eine physikalische Grösse bestimmen, die laut Lehrbuch bisher nicht messbar war: das elektrische Oberflächenpotential eines Teilchens in einer Flüssigkeit. Bis anhin musste man ein Partikel für diese Messung trocknen. «Nun können wir es in seiner natürlichen Umgebung untersuchen», sagt Matthew Brown. Davon versprechen sich die Forscher unter anderem Anwendungen in der Medizin, wenn an Nanopartikel gebundene Wirkstoffe injiziert werden sollen. «Im Körper befinden sich die Partikel in einer Flüssigkeit», erklärt der Materialwissenschaftler, «da möchte man die Struktur des gelösten Teilchens kennen.» Strukturkenntnisse von Nanopartikeln könnten aber auch bei der Energiespeicherung, der Entsalzung von Meerwasser oder der Reinigung von Grundwasser helfen.