Den Quasiteilchen auf der Spur

Forscher korrigieren eine bisher vorherrschende Fehlinterpretation

04.11.2016 - Schweiz

Elektronen in Festkörpern können sich zu sogenannten Quasiteilchen zusammentun, die neue Phänomene hervorbringen. ETH-Physiker haben nun bislang nicht identifizierte Quasiteilchen in einer neuen Klasse von Festkörpern untersucht, die aus nur einer atomaren Schicht bestehen. Mit ihren Ergebnissen korrigieren die Forscher eine bisher vorherrschende Fehlinterpretation.

ETH Zürich / Meinrad Sidler

Ein Polaron (orange) bildet sich inmitten der Elektronen (violett) eines Festkörpers.

Um Wetterphänomene zu verstehen und vorherzusagen, ist es wenig sinnvoll, das Verhalten von einzelnen Wassertröpfchen oder Luftmolekülen zu betrachten. Stattdessen sprechen Meteorologen (und auch Laien) von Wolken, Winden und Niederschlag – Objekte also, die sich aus dem komplexen Zusammenspiel kleiner Teilchen ergeben. Physiker, die sich mit optischen Eigenschaften oder der Leitfähigkeit von Festkörpern befassen, machen es ganz ähnlich. Auch hier sind kleinste Teilchen – Elektronen und Atome – für die verschiedensten Phänomene verantwortlich, doch ein aufschlussreiches Bild ergibt sich erst, wenn man viele von ihnen zu «Quasiteilchen» zusammenfasst.

Herauszufinden, welche Quasiteilchen genau sich in einem Material bilden und wie diese sich gegenseitig beeinflussen, ist allerdings keine leichte Aufgabe und gleicht einem enormen Puzzle, dessen Teile sich durch langwierige Forschung nach und nach zusammenfügen. Ataç Imamoğlu und seinen Mitarbeitern vom Institut für Quantenelektronik der ETH Zürich ist es nun gelungen, in einer kombinierten experimentellen und theoretischen Studie ein neues Puzzleteil zu finden, das zudem ein bisher falsch platziertes Teil an die richtige Stelle rückt.

Exzitonen und Polaronen

In Festkörpern bilden sich Quasiteilchen beispielsweise, wenn ein Lichtteilchen absorbiert wird. Die Bewegungsenergie von Elektronen, die sich in einem Festkörper tummeln, kann nur Werte annehmen, die sich in fest umgrenzten, als Bänder bezeichneten Bereichen befinden. Ein Lichtteilchen kann nun ein Elektron aus einem niedrigen in ein höheres Energieband befördern, wobei es im niedrigen Band ein «Loch» hinterlässt.

Das angeregte Elektron und das entstandene Loch ziehen sich durch die elektrostatische Coulomb-Kraft gegenseitig an, und wenn diese Anziehung stark genug ist, kann man das Elektron-Loch-Paar als Quasiteilchen betrachten – ein «Exziton» ist geboren. Binden sich dagegen zwei Elektronen und ein Loch aneinander, so bildet sich ein Trion. Befinden sich aber gleichzeitig Exzitonen und eine grosse Zahl von freien Elektronen im Material, so braucht man zur Beschreibung seiner qualitativ neuen – oder «emergenten» – Eigenschaften ein neues, Fermi-Polaron genanntes Quasiteilchen.

Quasiteilchen im Halbleiter

Imamoğlu und seine Kollegen wollten nun die Eigenschaften von Quasiteilchen studieren, die in einem bestimmten Typ von Halbleiter vorkommen, in dem sich Elektronen nur in zwei Dimensionen bewegen können. Dazu nahmen sie eine einzelne, nur einen Tausendstel Mikrometer dünne Schicht aus Molybdän-Diselenid, die zwischen zwei Bornitrid-Scheiben eingebettet war. Dem fügten sie eine Graphenschicht hinzu, um damit eine elektrische Spannung anzulegen, mit deren Hilfe die Dichte der Elektronen im Material gesteuert werden konnte. Schliesslich wurde die Anordnung zwischen zwei Mikro-Spiegel gepackt, die zusammen einen optischen Resonator bildeten.

Mit dieser komplexen Versuchsanordnung konnten die Zürcher Physiker nun im Detail studieren, wie stark das Material unter verschiedenen Bedingungen Licht absorbiert. Dabei fanden sie heraus, dass sich bei optischer Anregung in der Halbleiterstruktur Fermi-Polaronen bilden und nicht, wie bisher angenommen, Exzitonen oder Trionen. «Die damals verfügbaren Daten dazu wurden bisher von der Forschung – meine eigene eingeschlossen – immer falsch interpretiert», gibt Imamoğlu zu. «Mit unserem neuen Experiment haben wir nun das bisher gültige Bild zurechtgerückt.»

Teamleistung mit Gastforscher

«Das Ganze war eine Teamleistung, an der Harvard-Professor Eugene Demler massgeblich beteiligt war. Er hat als ITS-Fellow mehrere Monate mit uns zusammengearbeitet», sagt Meinrad Sidler, Doktorand in Imamoğlus Gruppe. Das Institute for Theoretical Studies (ITS) der ETH macht es sich seit 2013 zur Aufgabe, interdisziplinäre Forschung an der Schnittstelle von Mathematik, theoretischer Physik und Informatik zu fördern. Vor allem auf reiner wissenschaftlicher Neugier basierende Forschung soll so erleichtert werden, mit dem Ziel, die besten Ideen an unerwarteten Orten zu finden.

In der nun in der Fachzeitschrift «Nature Physics» veröffentlichen Studie von Imamoğlu und Kollegen hat dieses Prinzip jedenfalls schon gefruchtet. Eugene Demler befasst sich in seiner Forschung nämlich eigentlich mit ultrakalten Atomen und untersucht, wie sich Mischungen aus bosonischen und fermionischen Atomen verhalten. «Durch sein Verständnis von Polaronen in atomaren Gasen und Festkörpern hat Demler unserer Forschung wichtige und interessante Impulse gegeben, auf die wir von alleine wohl nicht gekommen wären», sagt Imamoğlu.

Lichtinduzierte Supraleitung

Die jetzt gewonnenen Erkenntnisse werden Imamoğlu und seine Mitarbeiter noch eine Zeit lang beschäftigen, denn eben um das Zusammenspiel bosonischer (zum Beispiel Exzitonen) und fermionischer Teilchen (Elektronen) geht es in einem grossen Forschungsprojekt, für das Imamoğlu letztes Jahr einen Advanced Grant des European Research Council (ERC) gewonnen hat und das auch vom Nationalen Forschungsschwerpunkt Quantenwissenschaften und -technologie (NFS QSIT)
gefördert wird. Ein besseres Verständnis solcher Mischungen von Quasiteilchen hätte einerseits wichtige Auswirkungen auf die Grundlagenforschung, anderseits winken aber auch spannende Anwendungen. So ist es beispielsweise ein zentrales Ziel des ERC-Projekts zu zeigen, wie Supraleitung mit Hilfe von Laserlicht kontrolliert werden kann.

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