«Open Science»: Forscher brechen aus dem Elfenbeinturm aus
Die Digitalisierung verändert das Selbstverständnis von Wissenschaftlern
(dpa) Forschungsdaten und -ergebnisse werden frei verfügbar: Dieser Trend zur «Open Science» ist nach Einschätzung von Wissenschaftlern nicht mehr umzukehren. Der als «Open Access» bezeichnete kostenfreie Zugang zu Fachaufsätzen sei ein Kernelement von «Open Science» und werde im Lauf der nächsten Jahre weltweit zum Standard, sagt der Mainzer Chemiker und Max-Planck-Direktor Ulrich Pöschl. Das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz hat nach seinen Angaben seit 2001 eine führende Stellung, wenn es darum geht, hochwertige Open-Access-Zeitschriften zu etablieren. «Da ist von Mainz in den letzten 15 Jahren sehr viel ausgegangen, was gut zur Tradition von Gutenberg passt», dem Erfinder des modernen Buchdrucks mit beweglichen Lettern und Wegbereiter einer neuen Art von Wissensvermittlung.
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«Leider ist es noch nicht möglich, jeden Aufsatz in Open Access zu publizieren», erklärt Pöschl. Manche Ergebnisse müssten noch in Zeitschriften mit kostenpflichtigem Zugang veröffentlicht werden, da in einigen Bereichen nur diese zur Verfügung stünden.
Bis 2020 soll aber ein Großteil der wissenschaftlichen Zeitschriften auf «Open Access» umgestellt sein - so lautet auch ein zentrales Ziel der von Pöschl mitinitiierten internationalen Initiative «Open Access 2020». Der Chemiker ist wissenschaftlicher Koordinator der Initiative, an der alle führenden wissenschaftlichen Vereinigungen in Deutschland mitwirken, darunter die Hochschulrektorenkonferenz, die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft.
«Open Access» solle in Zusammenarbeit mit Verlagen erreicht werden, erklärt Pöschl und fügt hinzu: «Das ist kein Gegeneinander, sondern wird immer mehr zu einem Miteinander.» Durch «Open Access» öffnet sich der bisher wenig flexible Publikationsmarkt für neue Anbieter, aber auch die traditionellen Verlage bieten neue Dienstleistungen an. Auch könnten frei verfügbare Fachaufsätze als Werbung für das Buchgeschäft dienen. «Vom freien Zugang und neuen Möglichkeiten zur Nachnutzung von Forschungspublikationen werdem die Wissenschaft und die Gesellschaft insgesamt massiv profitieren.»
Einen längeren Weg haben die Befürworter von «Open Science» noch bei «Open Data» vor sich, dem freien Zugang zu Rohdaten für Forschungsprojekte. Zur Klima- und Atmosphärenforschung gibt es bereits große Datenbanken, die weltweit zugänglich sind und auch viele Daten der Mainzer Forscher enthalten. «Zugleich aber haben Wissenschaftler ein legitimes Interesse, diese Daten zumindest über eine begrenzte Zeitspanne hinweg selbst zu nutzen, bevor andere damit arbeiten», sagt Pöschl und nennt als Beispiel Doktoranden, von denen in ihrer Dissertation ein eigenständiger neuer Beitrag zur Forschung erwartet wird. «Bei Open Data müssen wir erst noch gangbare Wege finden», sagt Pöschl. Als einen schon kurzfristig möglichen Weg nennt er die Offenlegung von Forschungsdaten, deren Auswertung in einem Zeitschriftenaufsatz präsentiert wird.
Ein Beispiel für die Probleme, die den offenen Zugang noch verbauen, war kürzlich Thema eines Fachgesprächs beim Mainzer Zentrum für Digitalität in den Geistes- und Kulturwissenschaften (mainzed): In den Kulturwissenschaften beanspruchen manche Museen Rechte auf die Nutzung von digitalen Fotos ihrer Kulturgüter. Die Geschäftsführerin der Deutschen Digitalen Bibliothek, Ellen Euler, sagte danach: «Kulturgüter gehören der Öffentlichkeit in Museen und deswegen müssen ihre digitalen Reproduktionen auch öffentlich verfügbar sein.» Die Digitalisierung mache die Bestände von Kultureinrichtungen für alle sichtbar und ermögliche so ihre Nutzung in neuen Zusammenhängen. Je umfassender und je freier dies geschehe, desto wirksamer könne sich Forschung entfalten. «Offenheit bedeutet Demokratisierung von Wissen.»
«Transparenz in der Wissenschaft ist auch ein Wert an sich», betont die Landauer Professorin Anna Baumert. «Was wir erarbeiten, gehört eigentlich der Gesellschaft und nicht uns persönlich - es ist nicht legitim, wenn wir es unter Verschluss halten.» Die Psychologin engagiert sich in der Open-Science-Kommission ihres Fachbereichs an der Universität Koblenz-Landau.
Dass «Open Science» gerade in der Psychologie sehr forciert wird, hat seinen Grund in der sogenannten Replikationskrise des Fachs: In einem internationalen Projekt wurden 100 psychologische Experimente wiederholt, deren Ergebnisse in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Dabei konnten die Ergebnisse von mehr als jeder zweiten Studie nicht «repliziert», also nicht bestätigt werden.
Zudem werden oft nur diejenigen Studien veröffentlicht, die eine Hypothese bestätigen. Wenn eine Annahme widerlegt wird, kommt es eher nicht zur Publikation. Damit gehe eine Verzerrung einher, die auch andere Disziplinen wie die Medizin beträfen, erklärt Baumert. «Damit funktioniert das kumulative Voranschreiten der Wissenschaft nicht ordentlich.» Damit Hypothesen nicht nachträglich den Ergebnissen angepasst werden, gibt es daher die Forderung nach einer «Präregistrierung»: Hypothesen zu Forschungsprojekten sollen öffentlich festgehalten werden.
Das Institut in Landau ist eines von sieben im deutschsprachigen Raum, das in einem Netzwerk «Open Science» in der Psychologie vorantreibt. Die beteiligten Forscher nutzen freie Software wie das Statistikprogramm «R» und Plattformen wie das «Open Science Framework» (OSF), wo auch die Daten zu Forschungsprojekten eingestellt werden können. Die Orientierung an «Open Science» verändert aus Sicht von Anna Baumert letztlich das Selbstverständnis von Wissenschaft: «Ich reflektiere mehr über das eigene Arbeiten und frage: Was sind meine Ziele, warum betreibe ich Wissenschaft?»