Metalle an der Grenze der Verformbarkeit
Verformungsprozess metallischer Werkstoffe bis auf einzelne Atome genau vorhersagen
Alexander Stukowski
Im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit stehen „Liniendefekte“ – Unregelmäßigkeiten im ansonsten ganz regelmäßigen Kristallgitter, dem aus Atomen zusammengesetzten inneren Gerüst eines Metalls. Sie entstehen zum Beispiel durch Krafteinwirkung von außen. Mit einer Reihe aufwendiger Computersimulationen konnte das deutsch-amerikanische Team studieren, wie sich Liniendefekte in Metallen, sogenannte Versetzungen, vermehren und unter welchen Bedingungen sie auf sie wirkende mechanische Verformungskräfte nicht mehr genügend abbauen können. Stattdessen kommt dann ein neuer Mechanismus ins Spiel, sogenannte Zwillingsbildung, bei der die Ausrichtung des Kristallgitters umorientiert wird.
Festigkeit und Verformbarkeit eines Metalls, wie beispielsweise des in der Studie betrachteten Tantals, werden entscheidend durch Liniendefekte im kristallinen Aufbau auf der atomaren Ebene bestimmt. Diese Versetzungen sind für das Abgleiten der regelmäßig angeordneten Atomlagen in der Kristallstruktur verantwortlich, das bei plastischer Verformung des Werkstoffs auftritt.
Die Theorie der Versetzungen wurde in den 1930er Jahren entwickelt. Seitdem hat sich die Forschung vor allem der Wechselwirkung dieser linienförmigen Kristallfehler gewidmet, da sie eine wichtige Rolle für die Verfestigung von Metallen spielt. Hierbei nimmt die Festigkeit des Materials durch die fortlaufende Verformung zu – ein Effekt, der beispielweise von einem Schmied ausgenutzt wird, der ein Metall mit Hammer und Amboss bearbeitet.
„Wir sagen mit unserem Computermodell vorher, dass der Kristall letztendlich einen stationären Zustand einnehmen und in ihm unbegrenzt verweilen kann, nachdem er seine maximale Festigkeit erreicht hat“, sagt Dr. Alexander Stukowski, Mitautor der Studie. „Bereits vor Jahrtausenden wussten Schmiede intuitiv, dass sie die mechanischen Eigenschaften von Metallteilen durch das wiederholte Bearbeiten mit dem Hammer von verschiedenen Seiten deutlich verbessern können. Genau solch ein „Kneten“ des Metalls stellen wir in unserer atomar aufgelösten Simulation nach.“
Bislang galten die dabei relevanten Zeit- und Längenskalen als unüberwindbares Hindernis: Ein Kubikmikrometer Metall besteht typischerweise aus 60 Milliarden Atomen. Die Wissenschaftler können, aufbauend auf den Ergebnissen der in Nature veröffentlichten Arbeiten, heute berechnen, wie die Atome untereinander wechselwirken und die Bewegungsbahn jedes einzelnen Atoms über viele Millionen Zeitschritte hinweg verfolgen. Aufgrund der riesigen Datenmenge und des notwendigen Rechenaufwands waren solch detaillierte numerische Simulationen für die Vorhersage von Metallfestigkeit bisher praktisch undenkbar. Wie das Forscherteam jetzt zeigte, sind solche atomistischen Simulationen möglich – und sie können eine Fülle von Beobachtungen zu den mikroskopischen Prozessen liefern, die für das dynamische Verformungsverhalten metallischer Werkstoffe von fundamentaler Bedeutung sind.
„Wir können in unserer Metallsimulation das Kristallgitter und die vielen Atome, aus denen es sich zusammensetzt, mit allen Details sehen und die Veränderung während der einzelnen Verformungsphasen studieren“, sagt Alexander Stukowski. „Die große Zahl der Atome und die Komplexität der dreidimensionalen Versetzungsstrukturen überfordern jedoch selbst ein geschultes Auge bei weitem. In unserer Forschungsgruppe in Darmstadt haben wir daher präzise Analysemethoden und Computeralgorithmen entwickelt, die Kristallfehler automatisch klassifizieren, herausfiltern und sichtbar machen können.“
Erst der Einsatz leistungsfähiger Supercomputer macht entsprechende Simulationen möglich, in denen die Bewegungsbahnen vieler Millionen oder Milliarden einzelner Atome berechnet und damit das Festigkeitsverhalten eines metallischen Werkstoffs unter schneller Verformung vorhergesagt werden kann. Die Forscher setzten für ihre Studie Großrechner der höchsten Leistungsklasse am Lawrence Livermore National Laboratory und am Helmholtz-Forschungszentrum Jülich ein. Zur Auswertung und Darstellung der generierten Simulationsdaten diente eine Spezialversion der Software OVITO, die am Fachbereich Material- und Geowissenschaften der TU Darmstadt entwickelt und weltweit von Forschern eingesetzt wird.
Das Verfahren ermögliche nun einen ganz neuen Zugang zum Forschungsgegenstand, sagt Stukowski und zitiert den Physiker Colin Humphreys: „Kristalle sind wie Menschen. Es sind ihre Fehler, die sie interessant machen.“