«Seveso wurde zum Wendepunkt» - 30 Jahre nach der Katastrophe

10.07.2006

(dpa) - Es ist ruhig geworden in Seveso. Wo sich vor 30 Jahren einer der schwersten Chemieunfälle der europäischen Geschichte ereignete, steht heute ein Sportzentrum. Aus dem Schutt der Fabrik, aus der damals die Dioxinwolke aufstieg, hat die Gemeinde vor den Toren Mailands einen Park angelegt. «Bosco delle Querce», Eichenwald, heißt der Park. Klingt geradezu idyllisch. «Viele Menschen können sich gar nicht mehr vorstellen, was sich damals hier abspielte», meint ein Mitarbeiter der italienischen Umweltorganisation Legambiente. «Vergessen ist das Unglück trotzdem nicht.»

Seveso ist zum Synonym geworden - für die Angst vor der Chemie, für die Gefahren des Fortschritts. «Doch es wurde auch zum Auslöser für den Kampf um mehr Sicherheit», meint Massimiliano Fratter von Legambiente, der «Seveso-Experte» der Organisation. «Seveso wurde zum Schlüsselereignis in der Industriegeschichte.»

Es geschah an einem Samstag. 10. Juli 1976, 12.37 Uhr. In der Chemiefabrik ICMESA sind nur wenige Arbeiter, da platzt ein Sicherheitsventil. Aus dem Reaktor in der Produktionshalle B entweicht eine Gaswolke mit hochgiftigem Dioxin. «Es roch nach Medizin», meinte ein Augenzeuge später. Erst nach einer Stunde wird das Leck entdeckt. Schon am nächsten Morgen treten bei mehreren Kindern in Seveso erste Symptome von Hauterkrankungen auf.

Von Beginn an wurde geschlampt, verharmlost. Bäume verloren plötzlich ihre Blätter, Hühner, Kaninchen und Katzen verendeten. Doch die verängstigte Bevölkerung musste sich zunächst mit dem Ratschlag abfinden, sie solle kein Gemüse aus dem Garten esse. Erst zehn Tage nach dem Unfall wurde publik, dass die Gaswolke Tetrachlordibenzo-p- Dioxin enthalten hatte - einer der gefährlichsten Gifte für den Menschen. Wie viel genau, weiß man bis heute nicht: Schätzungen schwanken zwischen 300 Gramm und 34 Kilo.

Erst 16 Tage nach dem Unglück wurden die ersten Häuser evakuiert. Die am stärksten betroffene Zone A um das Fabrikgelände wird später dem Erdboden gleichgemacht. In Seveso gab es keine Todesfälle zu beklagen, die nachweislich mit dem Unfall in Verbindung stehen. Die 193 an Chlorakne erkrankten Menschen und die 447 weiteren mit Hautverätzungen gelten nach 20 Jahren als geheilt - auch wenn Narben geblieben sind. Später zahlte der Schweizer Chemiekonzern Hoffmann-La Roche, zu dem die Fabrik ICMESA gehörte, rund 300 Millionen Franken (heute etwa 197 Millionen Euro) Entschädigung an die Opfer und für die Beseitigung der Schäden.

«Seveso wurde zum Wendepunkt in Sachen Sicherheit in Europa», sagt Fratter. Der Unfall rüttelte auf, die Politiker setzten sich in Bewegung. 1982 verabschiedete die EU die so genannte Seveso-I- Richtlinie. Da gab es ein neues Moment: Industriebetriebe, die mit bestimmten Mengen an Gefahrstoffen umgehen, müssen Risiken systematisch analysieren und abstellen. Danach seien viele Schwachstellen beseitigt worden, meinen Experten. «Bezeichnenderweise wurden diese Bestimmungen in Italien erst 1988 umgesetzt», erläutert Fratter.

Weitere Verschärfungen auf EU-Ebene gab es nach dem Unglück im indischen Bhopal, wo 1984 über 2000 Menschen starben. «Damals in Seveso gab es auch schon die technischen Möglichkeiten, einen solchen Unfall zu verhindern. Diese wurden aber aus Kostengründen nicht genutzt», meint Fratter. «Noch heute sind die Sicherheitsbestimmungen nicht streng genug. Damit sich so etwas wie Seveso nicht wiederholt - dafür arbeiten wir.»

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