Der Sauergeschmack spielt eine wichtige Rolle bei der Bewertung der Bekömmlichkeit komplexer Lebensmittel wie unreifes und
verdorbenes Obst. Außerdem hilft er Gewebsverletzungen und Störungen des Säure-Basenhaushaltes zu vermeiden, die durch
die Aufnahme starker Säuren hervorgerufen werden könnten. Obwohl schon lange an den molekularen Grundlagen des
Sauergeschmacks gearbeitet wird, ist bislang ungeklärt, wie Wasserstoffionen (Protonen) die Geschmacksrezeptorzellen
aktivieren. Zwei verbreitete Gedankenansätze gehen davon aus, dass der Einstrom der Protonen selbst die
Geschmacksrezeptorzellen aktiviert und/oder dass die Protonen zunächst Ionenkanäle öffnen. Diese Öffnung führt daraufhin zu
einer Aktivierung der Geschmacksrezeptorzellen. Klare Befunde für die zuletzt genannte Hypothese wurden jetzt durch die
Zusammenarbeit der Arbeitsgruppen von Bernd Lindemann (Homburg/Saar), Benjamin Kaupp (Jülich) und Wolfgang Meyerhof
vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke erbracht (Stevens et al., Nature 413, 631-635). Diese
weisen auf eine Beteiligung der so genannten HCN-Familie von Ionenkanälen am Sauergeschmack hin (HCN =
Hyperpolarisation aktivierte nicht selektive Kationenkanäle). Die Mitglieder dieser Ionenkanalfamilie sind vor allem in
rhythmischen Zentren von Herz und Gehirn vorhanden, wo sie als "Schrittmacherkanäle" an der Aufrechterhaltung des
Herzschlages und der Atmung beteiligt sind. Bei elektrophysiologischen Messungen an Präparaten von Rattenzungen zeigte sich
jetzt, dass ein Teil der Geschmacksrezeptorzellen nach Ansäuerung des Mediums mit der Aktivierung eines Ionenkanals
antwortete, dessen Eigenschaften denen der HCN-Familie entsprachen. Mit Hilfe von PCR-Techniken konnten tatsächlich zwei
der vier Mitglieder der Familie, HCN1 und HCN4, in den Zungenpräparaten nachgewiesen werden. Dass diese tatsächlich in den
Geschmacksrezeptorzellen selbst vorhanden sind, bewiesen umfangreiche biochemische Experimente. In Zellkulturmodellen
gelang es auch, den überraschenden Befund zu bestätigen, dass die beiden in Geschmacksrezeptorzellen vorhanden HCN-Kanäle
durch Protonen, die sich außerhalb der Zelle befinden, aktivierbar sind. Die vorgelegte Arbeit beleuchtet nicht nur einen Aspekt der
Sinneswahrnehmung sondern zeigt erneut, dass die Natur gleiche Proteine zur Bewältigung unterschiedlicher Aufgaben einsetzt.