Chemische Synthese mit künstlicher Intelligenz

03.04.2018 - Deutschland

Das Brettspiel Go galt lange als eine Bastion, die aufgrund ihrer Komplexität menschlichen Spielern vorbehalten war. Inzwischen haben die weltbesten Spieler keine Chance mehr gegen die Software "AlphaGo". WWU-Forscher haben nun gezeigt: Das Erfolgsrezept dieser Software lässt sich hervorragend zur Planung chemischer Synthese nutzen.

Als 1996 erstmals ein Computer eine Partie gegen den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow gewann, war das eine Sensation. Nach diesem Durchbruch beim Schach galt das Brettspiel Go lange Zeit als eine Bastion, die aufgrund ihrer Komplexität menschlichen Spielern vorbehalten war. Inzwischen haben die weltbesten Spieler keine Chance mehr gegen die Software „AlphaGo“. Der Erfolg des Rechenprogramms wird ermöglicht durch eine Kombination der sogenannten Monte-Carlo-Baumsuche mit tiefen neuronalen Netzwerken, die auf maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz (artificial intelligence) beruhen. Ein Forscherteam von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) zeigt nun: Diese Kombination ist auch hervorragend geeignet, um chemische Synthesen – sogenannte Retrosynthesen – mit nie da gewesener Effizienz zu planen. Die Studie ist in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.

Marwin Segler, Erstautor der Studie, bringt die Ergebnisse auf den Punkt: „Die Retrosynthese ist die Königsdisziplin der organischen Chemie. Chemikerinnen und Chemiker brauchen Jahre, um sie zu meistern – ähnlich wie bei Schach und Go. Neben purem Fachwissen braucht man auch ein gutes Maß an Intuition und Kreativität dafür. Bislang ging man davon aus, dass Computer nicht mithalten können, ohne dass Experten Zehntausende von Regeln per Hand einprogrammieren. Wir haben gezeigt, dass die Maschine die Regeln und ihre Anwendungen selbstständig aus der Literatur lernen kann.“

Die Retrosynthese ist die Standardmethode, um die Herstellung chemischer Verbindungen zu konzipieren. Das Prinzip: Die Verbindung wird gedanklich rückwärts in immer kleinere Bausteine zerlegt, bis man Grundbausteine erhält. Diese Analyse liefert quasi das Kochrezept, das dann im Labor durchgeführt wird, um das Zielmolekül ‚vorwärts‘ herzustellen, ausgehend von den Grundstoffen. Was konzeptuell einfach ist, birgt in der Praxis Schwierigkeiten. „Ähnlich wie beim Schach gibt es bei jedem Schritt oder Zug verschiedene Möglichkeiten, zwischen denen man sich entscheiden muss“, sagt Marwin Segler. „In der Chemie jedoch gibt es noch wesentlich mehr mögliche Züge als im Schach, und das Problem ist deutlich komplexer.“

Hier kommt nun das neue Verfahren ins Spiel, das tiefe neuronale Netzwerke und die Monte-Carlo-Baumsuche verknüpft – eine Konstellation, die so vielversprechend ist, dass aktuell zahlreiche Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen sie erforschen. Bei der Monte-Carlo-Baumsuche handelt es sich um eine Methode zur Bewertung von Spielzügen: Der Computer simuliert bei jedem Zug zahlreiche Varianten, wie zum Beispiel die Partie Schach zu Ende gehen könnte. Der vielversprechendste Zug wird ausgewählt.

Analog sucht der Computer nun für die chemische Synthese möglichst gute „Züge“. Er ist außerdem in der Lage, mittels tiefer neuronaler Netzwerke zu lernen. Dazu greift der Computer auf die gesamte jemals veröffentlichte chemische Fachliteratur zurück, die fast zwölf Millionen chemische Reaktionswege beschreibt. Mike Preuß, Wirtschaftsinformatiker und Mit-Autor der Studie, fasst es etwas vereinfacht so zusammen: „Die tiefen neuronalen Netzwerke werden genutzt, um vorherzusagen, welche Reaktionen mit einem bestimmten Molekül möglich sind. Mit der Monte-Carlo-Baumsuche kann der Computer ausprobieren, ob die vorhergesagten Reaktionen tatsächlich zum Zielmolekül führen.“

Neu ist die Idee, Computer zur Syntheseplanung zu nutzen, nicht. „Sie ist bereits etwa 60 Jahre alt“, berichtet Marwin Segler. „Man dachte, es reiche wie beim Schach aus, eine große Anzahl von Regeln in den Computer einzugeben. Das hat allerdings nicht funktioniert. Chemie ist sehr komplex und im Gegensatz zu Schach oder Go mit einfachen Regeln nicht rein logisch zu erfassen. Dazu kommt, dass sich die Zahl der Veröffentlichungen neuer Reaktionen etwa alle zehn Jahre verdoppelt. Sowohl Chemiker als auch Programmierer können nicht mehr mithalten. Wir brauchen die Hilfe eines ‚intelligenten‘ Computers.“ Das neue Verfahren ist im Vergleich zu konventionellen Syntheseplanungs-Programmen etwa 30 Mal schneller und findet mögliche Synthesewege für doppelt so viele Moleküle.

Chemiker halten die computergenerierten Synthesewege für genauso gut wie real bereits erprobte Wege, das haben die münsterschen Forscher in einer Doppelblindstudie herausgefunden. „Wir hoffen, dass Chemikerinnen und Chemiker mit unserem Verfahren weniger im Labor ausprobieren müssen und somit ressourcenschonender die Verbindungen herstellen können, die uns unseren hohen Lebensstandard ermöglichen“, unterstreicht Marwin Segler.

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