Perfekte Umkehr

29.08.2018 - Schweiz

Komplexe Strukturen perfekt umzukehren ist technisch sehr wichtig. ETH-Forschern ist es nun gelungen, die magnetische und elektrische Struktur von Materialien mit einem einzigen magnetischen Feldpuls umzudrehen.

ETH Zürich

Modell der perfekten Umkehr einer magnetischen oder elektrischen Struktur: Die untere Schicht beinhaltet die Information über die Struktur. Die mittlere kann mit einem angelegten Feld geschaltet werden. Dieser Umkehrprozess ist von links nach rechts dargestellt. Die obere Schicht zeigt die Verteilung der Magnetisierung bzw. Polarisierung im Material.

Wenn es unangenehm laut wird, kommt seit einigen Jahren in Kopfhörern oder Oberklasselimousinen der «Antischall» zum Einsatz. Dabei registriert ein Mikrofon die störenden Geräusche, und ein Computerchip berechnet daraus die geeigneten Gegenmassnahmen: Schallwellen also, deren Schwingungsphasen denen des Umgebungsschalls genau entgegengesetzt sind. Die Interferenz zwischen den Wellen führt schliesslich dazu, dass die Geräusche effektiv ausgelöscht werden. Gerne würden Physiker und Ingenieure das Prinzip der perfekten Umkehr auch auf andere Technologien anwenden, zum Beispiel auf die magnetische Struktur eines Materials. ETH-Professor Manfred Fiebig und seinen Mitarbeitern am Department Materialwissenschaft in Zürich ist nun genau das gelungen. Unterstützt wurden sie dabei von Wissenschaftlern aus Europa, Japan und Russland.

Magnetisch und elektrisch zugleich

Für seine Experimente benutzte Fiebigs Team so genannte Multiferroika. Anders als viele andere Materialien, die entweder magnetische oder elektrische Ordnung aufweisen, haben Multiferroika beides: Sie sind magnetisch, aber gleichzeitig auch elektrisch polarisiert und richten sich damit sowohl entlang magnetischer als auch elektrischer Felder aus. Die physikalischen Mechanismen, die innerhalb des Materials für die magnetische und elektrische Ordnung sorgen, sind dabei auf subtile Weise miteinander gekoppelt.

Das eröffnet unter anderem die Möglichkeit, die Magnetisierung nicht, wie sonst üblich, mit Magnetfeldern, sondern mittels elektrischer Felder zu beeinflussen. «Das ist viel effizienter, denn um Magnetfelder zu erzeugen braucht man elektrischen Strom, der viel Energie kostet und lästige Abwärme erzeugt», erklärt Naëmi Leo, eine ehemalige Doktorandin in Fiebigs Labor. In Computern beispielsweise, in denen ständig Daten auf magnetische Festplatten geschrieben werden müssen, könnten Multiferroika Schlüsselmaterialien für bedeutende Energieeinsparungen sein.

Tangram-Formen als Inspiration

An der ETH, die seit Jahren in der Erforschung von Multiferroika international führend ist, dachte man aber gleich noch einen Schritt weiter. «Ein Material, bei dem man die Magnetisierung mit elektrischen Feldern beeinflussen kann, muss von vorneherein ziemlich kompliziert aufgebaut sein», sagt Fiebig und veranschaulicht das Prinzip am Beispiel des chinesischen Tangram-Puzzles: Je mehr Teile man zur Verfügung hat – Dreiecke, Quadrate und ein Parallelogramm –, desto aufwendigere Formen kann man damit legen.

Im Fall der Multiferroika entsprechen die Formen den Symmetrien des Materials, die dessen physikalische Eigenschaften bestimmen. Je komplexer die Symmetrien, umso vielfältiger sind wiederum die so genannten Ordnungsparameter, die beschreiben, in welche Richtung in einem Multiferroikum die Magnetisierung zeigt und wie sie an die elektrische Ordnung gekoppelt ist.

Unerwartete Eigenschaften

Wenn nun aber in einem Material die Atome schon so kompliziert angeordnet sind, dann ist es auch sehr wahrscheinlich, dass es noch andere Eigenschaften hat, die man ihm auf den ersten Blick nicht ansieht. «Wir wollten uns daher nicht auf die altbekannten Phänomene beschränken, die schon lange erforscht werden, sondern vielmehr schauen, welche nützlichen Dinge Multiferroika sonst noch können», erklärt Fiebig seinen Forschungsansatz: «Wie können wir also die Puzzleteile – die Ordnungsparameter – auf andere als die bekannte Weise zusammensetzen und so zu neuen nützlichen Eigenschaften gelangen?»

Diese Offenheit dem Unerwarteten gegenüber zahlte sich aus. Fiebig und seine Mitarbeiter fanden schliesslich ein Multiferroikum, bei dem nicht nur wie üblich die gesamte Magnetisierung einheitlich durch ein angelegtes Feld ausgerichtet wird. Dadurch würde nämlich die magnetisch gespeicherte Information – die Verteilung der positiv und negative magnetisierten Bereiche im Material – ausgelöscht. Vielmehr kehrten sie durch das Feld die Magnetisierung in jedem Bereich des Materials um. Positiv magnetisierte Bereiche wurden in negativ magnetisierte überführt und umgekehrt. Die magnetische Information aber, die Verteilung der Bereiche also, blieb dabei erhalten. «Das ist so, als kehrte man auf einen Schlag jedes Bit auf einer Computer-Festplatte um», erklärt Fiebig. «Nur machen wir das durch einen einzigen Magnetfeldpuls, während man normalerweise jedes Bit einzeln umschreiben muss.»

Umpolung auf einen Schlag

Die ETH-Forscher fanden diese magnetische Entsprechung zum Antischall in einem Multiferroikum aus Kobalt, Tellur und Sauerstoff. Dank seiner komplexen Kristallstruktur kann dieses Material nicht nur gleichzeitig magnetisch und elektrisch polarisiert sein, sondern zudem gleich mehrere Ordnungsparameter für die Magnetisierung besitzen: einen, der die magnetische Ausrichtung eines Bereichs bestimmt, und einen weiteren, der sich an die Anordnung und Form dieser Bereiche im gesamten Material «erinnert».

Mithilfe eines speziellen Aufnahmeverfahrens, bei dem polarisiertes Laserlicht durch den Kristall geschickt wird und dabei seine Farbe ändert, konnten die Forscher den Umkehrungsvorgang räumlich direkt sichtbar machen.

Vertauschte Rollen

Doch damit nicht genug. Mit einem anderen Multiferroikum, bestehend aus Mangan, Germanium und Sauerstoff, konnten die Physiker ein ähnliches Kunststück vollführen, wobei diesmal allerdings die Rollen vertauscht waren: Das magnetische Feld kehrte diesmal nicht die Magnetisierung, sondern die elektrische Polarisierung des Materials um. Für die Forscher ist das eine weitere Bestätigung dafür, dass Multiferroika tatsächlich noch viele Überraschungen bereithalten. «Wahrscheinlich gibt es da noch sehr viel zu entdecken, das wir uns heute noch gar nicht vorstellen können», meint Fiebig.

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