Neuer Stoff für Chemie-Lehrbücher
Calciumcarbonat bildet eine bislang unbekannte wasserhaltige Kristallstruktur
© Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung/ Zhaoyong Zou
Kalk gibt es jede Menge. Als Kalkstein, Kreide oder Marmor findet er sich in vielen Gesteinen und Gebirgen. Er ist essenzieller Bestandteil von Baustoffen wie Zement oder Putz, aber auch regelmäßiges Ärgernis im Alltag – wenn er sich in Kaffeemaschinen, Teekesseln oder Duschköpfen ablagert. Kalk findet sich aber auch in der belebten Natur, etwa in Muschelschalen, manchen Algen oder im Skelett von Seeigeln.
Genau mit dem Skelett von Seeigeln beschäftigte sich das Team um Peter Fratzl am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Die Potsdamer Forscher untersuchten gemeinsam mit Kollegen des Weizmann-Instituts für Wissenschaften in Israel, wie die Tiere die komplex geformten kristallinen Schalen für ihr weiches Inneres bilden. Bekannt war, dass das Calciumcarbonat dabei erst in amorpher, also ungeordneter Form vorliegt und dann erst die regelmäßige Struktur von Calcit annimmt. Wie der Übergang im Detail abläuft, wollten die Forscher in Laborexperimenten, in denen sie etwa die Temperatur oder die Feuchtigkeit variierten, herausfinden
Keine Verschmutzung, sondern eine neue Kristallstruktur
Es war Zhaoyong Zou, damaliger Doktorand in der Potsdamer Arbeitsgruppe und inzwischen Professor in China, der dabei eines Tages etwas Überraschendes feststellte: Unter bestimmten Bedingungen entstand etwas, das nicht wie Calcit aussah. „Wir haben das erst für die Folge einer Verschmutzung gehalten“, erinnert sich Peter Fratzl, Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Doch Versuchen unter gleichen Bedingungen führten immer wieder zu den gleichen Ergebnissen. Keine Verschmutzung. Die Forscher hatten offenbar eine neue, bisher unbekannte Variante von Calciumcarbonat gefunden.
„Deren Struktur genau zu entschlüsseln, war gar nicht so leicht“, räumt Fratzl ein. Zum einen gelang es nicht, ausreichend große Kristalle der Substanz für die bei Strukturaufklärungen übliche Röntgenbeugungsanalyse herzustellen. Für manch andere Verfahren wiederum erwies sich die Substanz als nicht stabil genug. Die Struktur der unbekannten Salzvariante zweifelsfrei zu ermitteln, gelang schließlich, weil zahlreiche Partner im In- und Ausland unter Einsatz diverser Techniken dabei halfen. Darunter alleine Wissenschaftler von drei weiteren Max-Planck-Instituten sowie Kristallographie-Experten vom Technion in Haifa und von der Universität Mainz.
Demnach handelt es sich – wie bei zwei anderen Varianten von Calciumcarbonat – um ein Kristallgitter, das neben Calcium- und Carbonat-Ionen auch Wassermoleküle enthält, und zwar in einem Mengenverhältnis der Wassermoleküle und Calciumcarbonat-Einheiten von 0,5:1. Die Substanz heißt daher Calciumcarbonat-Hemihydrat, von den Forschern vereinfacht CCHH bezeichnet.
Auf der Suche nach der Kalkvariante in der Natur
„Es passiert nicht so oft in einem Forscherleben, dass etwas völlig Unerwartetes entdeckt wird, nach dem man eigentlich gar nicht gesucht hat“, sagt Peter Fratzl. In ihrer Anfangseuphorie hatten die Max-Planck-Wissenschaftler auch schon direkt eine Namensidee für das neue Material: Golmit – zu Ehren des Potsdamer Stadtteils Golm, in dem ihr Max-Planck-Institut liegt. „Doch dann mussten wir erfahren, dass solche Trivialnamen erst vergeben werden dürfen, wenn eine Substanz auch in der Natur nachgewiesen werden kann“, so Fratzl.
In der Tat fragen sich die Potsdamer Biomaterialforscher seit ihrer Entdeckung, ob die neue Kalkvariante auch in der Natur existieren könnte. Unter feuchten Bedingungen, so haben es die Experimente gezeigt, lagert CCHH zwar weiteres Wasser ein und geht schließlich in eine andere Variante über. Doch es gab auch Laborbedingungen, unter denen die Substanz zumindest einige Monate lang stabil war. Es könne auch gut sein, so Fratzl, dass CCHH bei Prozessen der Biomineralisierung eine Rolle als Zwischenstufe spiele, also etwa beim Übergang von amorphem Calciumcarbonat in Calcit.
Diese Prozesse noch genauer zu untersuchen, ist daher ein Ziel der Wissenschaftler. Möglicherweise lassen sich dabei gewonnene Erkenntnisse eines Tages auch für technische Prozesse nutzen, bei denen Kalk eine Rolle spielt, also etwa beim Verarbeiten von zementhaltigen Baustoffen. Einstweilen aber ist das noch Spekulation. Zunächst einmal müssen die einschlägigen Lehrbücher und Lexikon-Einträge um eine weitere kristalline Erscheinungsform des Kalks ergänzt werden.