Innovationen ermöglichen fast vollständige Dekarbonisierung des Industriesektors
Der Industriesektor ist für etwa 20 Prozent der EU-weiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Bis 2050 wird er seine Emissionen nahezu vollständig reduzieren müssen, wenn die Ziele aus dem Paris-Abkommen erreicht werden sollen. Mit ihrer Langfriststrategie hat die EU-Kommission eine Vision für eine klimaneutrale europäische Wirtschaft bis 2050 entwickelt und bei der Klimakonferenz in Katowice zur Diskussion gestellt.
Vor diesem Hintergrund hat das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI im Auftrag der EU-Kommission zusammen mit ICF Consulting Services Limited untersucht, welchen Beitrag einzelne Technologien zur Dekarbonisierung der Industrie leisten können und auf welchen Pfaden dies bis 2050 möglich wäre. Ein besonderes Augenmerk der Studie »Industrial Innovation: Pathways to deep decarbonisation of Industry« galt der industriellen Produktion von Grundstoffen wie Stahl, Zement, Ethylen, Ammoniak und Glas: Sie ist für einen Großteil der Emissionen der Industrie verantwortlich und gleichzeitig besonders schwierig zu dekarbonisieren.
Die Wissenschaftler setzten das vom Fraunhofer ISI entwickelte Simulationsmodell FORECAST mit hoher Technologieauflösung ein und berechneten acht alternative Szenarien. Die Ergebnisse zeigen, dass die Treibhausgasemissionen des Industriesektors bis 2050 um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden könnten.
Alle Szenarien zeigen, dass eine ambitionierte Verbesserung der Energieeffizienz die Kosten der Dekarbonisierung senken und besonders in den kommenden 10 bis 20 Jahren substanzielle Beiträge zur CO2-Einsparung leisten kann. Doch das allein reicht nicht, um die Emissionen ausreichend zu mindern. Ein entscheidender Faktor ist ein schneller Ausbau der Erneuerbaren Energien, um CO2-freien Strom zu gewinnen. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, da sich der Stromverbrauch des Industriesektors bis 2050 stark erhöhen könnte – je nach Szenario verdoppeln oder sogar verdreifachen. Dies würde vor allem dann geschehen, wenn Strom verstärkt für die Prozesswärmeerzeugung eingesetzt wird und wichtige Prozesse der Chemie- und Stahlindustrie auf Elektrolyse-Wasserstoff umgestellt werden.
Eine 95-prozentige Reduktion der Treibhausgase und damit eine nahezu CO2-neutrale industrielle Produktion bis 2050 verlangt grundlegende Änderungen entlang der Wertschöpfungskette. Dazu gehören die Verbreitung CO2-arm produzierter Zementsorten, ein effizienter Materialeinsatz und eine umfassende Kreislaufwirtschaft. Auch die Abscheidung und Speicherung von CO2 kann eine Rolle spielen, um beispielsweise verbleibende Emissionen bei der Herstellung von Zementklinker und Kalk zu mindern.
Förderung CO2-neutraler Herstellungsprozesse
Wie die Studie zeigt, ist mit den heute verfügbaren Technologien und dem bestehenden regulatorischen Rahmen die notwendige ambitionierte Transformation nicht möglich. Dr. Tobias Fleiter, Projektleiter am Fraunhofer ISI, betont »Bereits zwischen 2020 und 2030 müssen neue Technologien Marktreife erlangen, die Infrastruktur gebaut und der regulatorische Rahmen angepasst werden. Hierfür braucht es einen umfassenden Instrumentenmix, der unter anderem die Forschung und Entwicklung für CO2-neutrale Herstellungsprozesse sowie die Schaffung von Nischenmärkten für CO2-arme Grundstoffprodukte fördert. Zentral ist, nicht nur die Grundstoffindustrie selbst zu verändern, sondern die gesamte Wertschöpfungskette einzubeziehen. Besonders die Bauwirtschaft sollte sich als größter Nachfrager von CO2-intensiven Produkten wie Stahl, Zement und Glas daran orientieren, wieviel Emissionen bei der Herstellung ausgestoßen werden. Deshalb müssten die Kosten der CO2-Emissionen in der Produktverwendung eingepreist werden.«
Ein Schritt zur Entwicklung CO2-neutraler Herstellungsprozesse ist der Innovationsfonds (IF), den die EU-Kommission derzeit vorbereitet: Ab 2021 soll er Einnahmen aus dem Emissionshandel unter anderem dafür bereitstellen, Forschung und Entwicklung für die Dekarbonisierung der Industrie zu fördern.
Die Konzeption und Ausgestaltung des IF sowie dessen Auswirkungen auf Umwelt und Wirtschaft waren im Fokus einer weiteren Studie des Fraunhofer ISI für die EU-Kommission in Kooperation mit Ecofys. Für Projektleiter Prof. Dr. Wolfgang Eichhammer vom Fraunhofer ISI ist der IF »ein wichtiger Schritt zur Förderung innovativer CO2-neutraler Industrieprozesse: Der CO2-Preis im Emissionshandel reicht trotz des kürzlichen starken Anstiegs in absehbarer Zeit allein nicht aus, um die Wirtschaftlichkeit dieser neuen Technologien zu erreichen. Daher scheuen sich Unternehmen, die im weltweiten Wettbewerb stehen, diese Technologien in großem Maßstab in die industrielle Anwendung zu bringen. Der weiter steigende CO2-Preis wird jedoch in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten die heutigen Standardtechnologien, die auf fossilen Energieträgern beruhen, zunehmend unwirtschaftlich machen. Der IF ist daher ein wichtiger Baustein, um in der Anfangsphase diese Technologien wirtschaftlich zu machen und das Risiko für die Unternehmen zu senken.«