Atomare Bewegungen "on-the-fly" erfasst durch maschinelles Lernen
© Menno Bokdam/University of Vienna
© Menno Bokdam/University of Vienna
Bei Raumtemperatur befinden sich die Atome aller Materialien in ständiger Bewegung. Selbst solides Gestein besteht aus schwingenden Atomen. Die physikalischen Eigenschaften von Materialien stehen in direktem Zusammenhang mit der Anordnung ihrer Atome. Je nach Temperatur oder Druck können sich diese Anordnungen und die Materialeigenschaften ändern. Veranschaulicht am Beispiel eines Diamanten, ist dieser, der transparent und hart, weil die Kohlenstoffatome im Diamantkristall periodisch angeordnet sind. Aus den gleichen Atomen entsteht bei anderer Anordnung schwarzer, spröder Graphit. Für einfache Materialien ist es möglich, die Position ihrer Atome bei verschiedenen Temperaturen mit quantenmechanischen Molekulardynamik-(MD)-Simulationen genau zu bestimmen. Solche Berechnungen sind jedoch rechenintensiv und beschränken die praktische Anwendung auf ein paar hundert Atome und eine begrenzte Simulationszeit.
Physiker aus der Gruppe Computergestützte Materialphysik an der Universität Wien haben nun einen neuen Ansatz entwickelt, der diese Einschränkungen überwindet und Simulationen komplexer Materialien für zukünftige Energieanwendungen ermöglicht. Dies wird durch die Entwicklung eines effizienten und robusten datengesteuerten selbstlernenden Algorithmus erreicht und vor allem durch die direkte Integration dieses Algorithmus in das Vienna Ab-initio Simulation Package (VASP). Im neuen Ansatz kann die "Maschine" ganz allein die wesentlichen Bestandteile für eine einfachere Beschreibung der wechselwirkenden Atome noch während der MD-Simulationen bereitstellen. Bereits nach der Berechnung von einigen hundert bis tausend Zeitschritten ist die Maschine genau genug, um eine Vorhersage der Positionen der Atome im nachfolgenden Zeitschritt zu machen.
Die Maschine ist auch in der Lage, eine Schätzung ihrer Genauigkeit für die nachfolgenden Schritte vorzunehmen. Wenn der Fehler zu hoch ist, schaltet die Maschine auf die genauen, aber rechenintensiven MD-Berechnungen um. Je mehr Simulationszeit vergeht, desto mehr lernt die Maschine und desto genauer wird sie. Auf diese Weise sind immer weniger MD-Berechnungen erforderlich, was schließlich dazu führt, dass alle Zeitschritte von der Maschine ausgeführt werden. Die Selbstlernfähigkeit bei laufendem Betrieb reduziert den Bedarf an menschlichem Eingreifen, der bei bestehenden Methoden des Maschinenlernens üblicherweise erforderlich ist.
Um die Leistungsfähigkeit der neuen Methode unter Beweis zu stellen, haben die Forscher damit Übergänge zwischen den verschiedenen Atomstrukturen des MAPbI3-Perowskits nach Änderung der Temperatur untersucht. Dieses Material ist wegen seines Potenzials als neues, billiges Solarzellen-Material eingesetzt zu werden sehr beliebt. Es besteht aus organischen Molekülen, die sich schnell drehen können und durch ein Gitter aus Blei- und Iodidatomen getrennt sind. Je nach Temperatur entstehen drei verschiedene Kristallphasen. Die atomaren Mechanismen in der Nähe der Übergangstemperatur sind sehr schwer experimentell zu bestimmen, und herkömmliche MD-Simulationen würden selbst auf einem modernen Supercomputer jahrelange Rechenzeit erfordern.
Mit der neuen "On-the-Fly"-Methode kann die Maschine nach dem Lernen die Phasenübergangstemperaturen und Gitterkonstanten dieses Materials mit beispielloser Präzision vorhersagen. Die neu entwickelte Methode ist allgemein und auf viele andere zukünftige materialwissenschaftliche Probleme anwendbar und wird in der kommenden Version von VASP für Forscher weltweit verfügbar sein.