Topologie wird magnetisch: Die neue Vielfalt topologischer magnetischer Materialien
Forscher entwickeln neue Hochdurchsatz-Methode zur Entdeckung magnetischer Topologie
© MPI Mikrostrukturphysik Halle
Das Periodensystem klassifiziert Elemente gemäß ihrer chemischen Eigenschaften wie Anzahl der Elektronen oder Elektronegativität. Diese Einteilung hat zur Vorhersage – und späteren Entdeckung – neuer Elemente geführt. In vergleichbarer Weise wurden die elektronischen Strukturen unmagnetischer kristalliner Festkörper – also regelmäßiger Anordnungen von Elementen – mit Hilfe vollständiger Theorien der topologischen Quantenchemie und symmetriebasierter Indikatoren in einem „topologischen Periodensystem“ klassifiziert. Aufgrund der Topologie ihrer elektronischen Wellenfunktionen konnten Zehntausende unmagnetische topologische Materialien identifiziert werden, was die Entdeckung Tausender neuer topologischer Isolatoren ermöglicht hat.
Im Gegensatz zu unmagnetischen Stoffen können magnetische Materialien gegenwärtig nicht durch automatisierte topologische Methoden klassifiziert werden. Daher wurden bisher nur Untersuchungen an einzelnen magnetischen topologischen Materialien durchgeführt, was vor allem durch mögliche Anwendungen als effiziente thermoelektrische Energiewandler, energieeffiziente Komponenten in mikroelektronischen Baueinheiten, die das Herz von Quantencomputern bilden könnten, oder verbesserten magnetischen Speichermedien motiviert wurde. Obwohl erste theoretische Studien zu topologischen Materialien und ihren Eigenschaften bereits in den frühern1980er Jahren an magnetischen Systemen entwickelt wurden – welche im Jahr 2016 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurden – beschränkten sich die Fortschritte bei der Entdeckung topologischer Materialien innerhalb der letzten 40 Jahre weitgehend auf die Gebiete unmagnetischer topologischer Isolatoren und Halbmetalle.
Die geringe Anzahl potentieller magnetischer topologischer Materialien kann auf die komplizierten Symmetrien magnetischer Kristalle sowie auf die theoretischen und experimentellen Schwierigkeiten bei der Modellierung und experimentellen Untersuchung von Quantenmagneten zurückgeführt werden. Dies liegt zum einen daran, dass nur einige hundert experimentell bestimmte Magnetstrukturen in großen Datenbanken magnetischer Materialien enthalten sind, während Hunderttausende bekannter Stoffe auf der Grundlage ihrer Kristallstrukturen in etablierten Datenbanken gesucht werden können. Ein anderer Faktor ist, dass unmagnetische Kristalle nur gemäß ihrer 230 Raumgruppen klassifiziert werden müssen, magnetische Materialien dagegen nach 1.421 magnetischen Raumgruppen. „Obendrein müssen wir für alle magnetischen Systeme die Effekte von Elektron-Elektron-Wechselwirkungen berücksichtigen, welche bekanntermaßen schwer zu modellieren sind. Dies macht die Vorhersage magnetischer topologischer Materialien erheblich komplizierter, selbst dann, wenn die Datenlage günstiger wäre“, erklärt B. Andrei Bernevig, der Professor für Physik an der Princeton University und einer der Autoren der gegenwärtigen Studie ist, die die es zum Ziel hatte, dieses Problem anzugehen.
In der von Bernevig geleiteten Studie, die in der Fachzeitschrift Nature erschienen ist, hat ein internationales Team von Forschern der Max-Planck-Institute in Halle und Dresden, der University of the Basque Country in Bilbao, der IKERBASQUE Foundation for Science, des Donostia International Physics Center (DIPC), des CNRS und der Ecole Normale Superieure in Paris, des Massachusetts Institute of Technology, der Shanghai Tech University in Shanghai, der University of Oxford sowie der Princeton University nun einen großen Schritt vorwärts in Richtung auf die Entdeckung magnetischer Materialien mit nichttrivialen topologischen elektronischen Eigenschaften gemacht.
„Mit der Klassifikation und Diagnose der Bandtopologie in magnetischen Materialien schließt sich ein Kreis, der vor 40 Jahren in einem Gebiet begonnen hat, dessen Relevanz durch die Nobelpreise in Physik in den Jahren 1985 und 2016 deutlich gestärkt wurde“, sagt Claudia Felser, Direktorin am Max-Planck-Institut in Dresden, die als Autorin an der Studie beteiligt ist.
Im Jahr 2017 entwickelte ein Team von Wissenschaftlern der Princeton University, der University of the Basque Country, des Max-Planck-Instituts in Dresden sowie des DIPC eine neuartiges umfassendes Verständnis der Bandstruktur unmagnetischer Materialien. „In dieser Theorie – der sogenannten Topologischen Quantenchemie (TPC) – haben wir die topologischen Kennzeichen eines Materials mit der zugrundeliegenden Chemie verbunden. Dadurch wurde eine effektive automatisierte Suche nach unmagnetischen topologischen Materialien möglich“ erläutert Luis Elcoro, Professor an der University of the Basque Country in Bilbao und Coautor beider Studien. TQC stellt ein universelles Gerüst zur Vorhersage und Charakterisierung aller möglichen Bandstrukturen und kristallinen, stoichiometrischen Materialien dar. Ferner wurde die TQC auf 35.000 experimentell untersuchte unmagnetische Verbindungen angewendet, was zur Entdeckung von 15.000 neuen unmagnetischen topologischen Materialien geführt hat.
„In den letzten zwei Jahren haben wir Tausende topologischer Materialien identifiziert, während innerhalb der zwei Jahrzehnte zuvor nur wenige Hundert gefunden wurden. Vor der Entwicklung dieser neuartigen Werkzeuge glich die Suche nach neuen Materialien mit diesen erstaunlichen Eigenschaften der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Jetzt ist die Suche nach unmagnetischen topologischen Materialien fast Routine geworden“, sagt Maia Vergniory, die Assistenzprofessorin an der IKERBASQUE Foundation of Science und am DIPC und Coautorin beider Studien ist.
Die gegenwärtige Forschung konzentriert sich mehr und mehr auf magnetische Verbindungen. Für einige wenige magnetische Materialien wurde theoretisch vorhergesagt, dass sie antiferromagnetische topologische Phasen ausbilden können, aber nur eine Handvoll wurde experimentell bestätigt. „Eine zur TQC äquivalente Theorie wird benötigt um einen vergleichbaren Erfolg für die Studie magnetischer Materialien zu erreichen. Da jedoch mehr als tausend magnetische Symmetriegruppen in Betracht zu ziehen sind, ist das Problem mit groben Methoden nicht zu bewältigen“, sagt Benjamin Wieder, der Postdoktorand am Massachusetts Institute of Technology und der Princeton University sowie ein Autor der gegenwärtigen Studie ist.
Auf dem Weg zur Wiederholung des großen Erfolgs für unmagnetische Materialien waren die Autoren mit zwei Hindernissen konfrontiert: Einerseits musste das theoretische Rüstzeug zur Analyse der Bandtopologie eines gegebenen magnetischen Materials geklärt werden. „Betrachten wir den vollständigen Satz von Werkzeugen als Gebäude. Während die unmagnetischen Materialien als robustes Stadthaus erscheinen, stellt die komplette Theorie der magnetischen Materialien einen unvollendeten Wolkenkratzer dar“, sagt Zhida Song, Postdoktorand in Princeton und einer der Autoren der Studie. Ein weiteres Problem für die Entdeckung topologischer Materialien besteht darin, dass die Anzahl magnetischer Materialien mit hinreichend bekannter Magnetstruktur recht gering ist. „Während wir 200.000 unmagnetische Verbindungen analysieren konnten, umfasst die größte Datenbank von experimentell bestimmten magnetischen Strukturen nur rund 1.000 Einträge. Erst im letzten Jahrzehnt haben Wissenschaftler ernsthaft damit begonnen, die strukturellen Daten dieser magnetischen Materialien zu erfassen und zu klassifizieren“, fügt Autor Nicolas Regnault, Professor an der Ecole Normale Superieure, am CNRS und in Princeton, hinzu.
„Glücklicherweise konnten wir auf die gewissenhafte Arbeit der Menschen, die hinter der Datenbank magnetischer Strukturen am Bilbao Crystallographic Server stehen, zurückgreifen, was uns erlaubt hat, unsere theoretischen Modelle mit den richtigen Ausgangsdaten zu füttern“, sagt Yuanfeng Xu, Postdoktorand am Max-Planck-Institut in Halle und Erstautor der gegenwärtigen Studie. Die magnetische Information wird von dem Bilbao Crystallographic Server zur Verfügung gestellt, der von Professor Elcoro mitentwickelt wird. Nachdem zunächst die besten potentiellen Kandidaten ausgewählt wurden, analysierte das Team 549 magnetische Strukturen, indem zunächst Ab-initio-Methoden zur Bestimmung der magnetischen Symmetrien der elektronischen Wellenfunktionen angewendet wurden, und dann eine magnetische Erweiterung der TQC aufgebaut wurde, die es erlaubt zu bestimmen, welche magnetischen Strukturen nichttriviale Bandtopologie aufweisen. „Letztendlich haben wir festgestellt, dass der Anteil topologischer magnetischer Materialien (130 von 549) in der Natur ähnlich zu sein scheint wie der Anteil bei den unmagnetischen Materialien“, ergänzt Yuangfeng Xu.
Trotz der geringen absoluten Zahl magnetischer Stoffe im Vergleich zu den Tausenden unmagnetischer Materialien, die bisher untersucht wurden, haben die Autoren sogar eine größere Vielfalt faszinierender Eigenschaften gefunden. „Die Anzahl der Knöpfe, an denen wir in spannenden experimentellen Studien drehen können, wie die Kontrolle topologischer Phasenübergänge, scheint in magnetischen Materialien größer zu sein“, erklärt Xu. „Jetzt, wo wir neue magnetische topologische Materialien vorhergesagt haben, besteht der nächste Schritt darin, die topologischen Eigenschaften experimentell zu verifizieren“, ergänzt Autor Yulin Chen, Professor in Oxford und an der Shanghai Tech University.
Die Forscher haben auch eine Online-Datenbank aufgebaut, in der die Ergebnisse der aktuellen Studie frei zugänglich sind. Unter Verwendung verschiedener Suchwerkzeuge können die Nutzer die topologischen Eigenschaften von mehr als 500 analysierten magnetischen Strukturen erkunden. „Wir haben die Grundlage für einen Katalog topologischer magnetischer Strukturen gelegt. Die standardisierte Nutzung magnetischer Symmetrie in experimentellen und theoretischen Umgebungen in Kombination mit einer verbreiteten Übernahme der in dieser Arbeit entwickelten Werkzeuge lässt in den kommenden Jahren eine explosionsartige Zunahme von Entdeckungen in magnetischen topologischen Materialien erwarten“, schlussfolgert Bernevig.