Leuchtende Mega-Kristalle, die sich selbst aufbauen
Neue Megakristalle zeigen einzigartige Eigenschaften wie Superfluoreszenz und könnten eine neue Ära in der Materialwissenschaft einläuten
Empa
Gian Vaitl / Empa
Um genau zu verstehen, was dem Forscherteam um Maksym Kovalenko und Maryna Bodnarchuk gelungen ist, fängt man am besten mit etwas Alltäglichem an: Kochsalz-Kristalle kennt jeder, der schon einmal ein allzu fades Mittagessen aufpeppen musste. Natriumchlorid – chemisch NaCl – heisst die hilfreiche Chemikalie; sie besteht aus positiv geladenen Natrium-Ionen (Na+) und negativ geladenen Chlorid-Ionen (Cl-). Man kann sich die Ionen als Kügelchen vorstellen, die sich gegenseitig stark anziehen und dicht gepackte, harte Kristalle bilden, wie wir sie im Salzstreuer sehen können.
Viele natürlich vorkommende Mineralien bestehen aus Ionen – positiven Metallionen und negativen Gegenionen, die sich je nach ihrem Grössenverhältnis in unterschiedlichen Kristallgitterstrukturen anordnen. Darüber hinaus gibt es Strukturen wie Diamant und Silizium: Diese Kristalle bestehen nur aus einer Sorte von Atomen – im Fall von Diamant aus Kohlenstoff –, aber auch hier werden die einzelnen Atome, ähnlich wie die Ionen in Mineralien, durch starke Bindungskräfte zusammengehalten.
Neuartige Bausteine für eine neue Art von Materie
Was wäre, wenn man all diese starken Bindungskräfte zwischen den Atomen einfach ausgeschalten könnte? Im Reich der Atome, mit all der Quantenmechanik, die im Spiel ist, würde dies kein Molekül und auch keine Festkörper ergeben, zumindest nicht bei Umgebungsbedingungen. «Aber die moderne Chemie kann alternative Bausteine herstellen, die tatsächlich ganz andere Wechselwirkungen haben können als die zwischen Atomen», sagt Maksym Kovalenko, Empa-Forscher und Professor für Chemie an der ETH Zürich. «Sie können hart wie Billardkugeln sein, in dem Sinne, dass sie sich nur bei einem Zusammenprall gegenseitig wahrnehmen. Oder sie können an den Oberflächen weicher sein, wie Tennisbälle. Ausserdem können sie in vielen verschiedenen Formen hergestellt werden, also nicht nur als Kugeln, sondern auch als Würfel oder andere Polyeder, oder sogar in Form von anisotropen, unregelmässigen Gebilden.»
Solche Bausteine bestehen aus Hunderten oder Tausenden von Atomen und werden als anorganische Nanokristalle bezeichnet. Kovalenkos Team aus Chemikern der Empa und der ETH Zürich ist in der Lage, sie in grossen Mengen und sehr homogen zu synthetisieren. Kovalenko, Bodnarchuk und einige ihrer Kollegen auf der ganzen Welt arbeiten schon seit rund 20 Jahren mit solchen Bausteinen. Die Wissenschaftler nennen sie «Lego-Materialien», weil sie dichte, weiträumig geordnete Gitterstrukturen, so genannte Supergitter, bilden.
Schon lange wurde spekuliert, dass sich durch das Mischen verschiedener Arten von Nanokristallen völlig neue supramolekulare Strukturen herstellen lassen. Man erwartete, dass die elektronischen, optischen oder magnetischen Eigenschaften solcher Multikomponentenanordnungen eine Mischung aus den Eigenschaften der einzelnen Komponenten sein würden. Zunächst konzentrierten sich die Forschenden auf das Mischen von Kugeln unterschiedlicher Grösse, was zu Dutzenden verschiedener Supergitter mit Strukturen führte, die gewöhnlichen Kristallstrukturen, etwa von Kochsalz, ähneln – allerdings mit zehn- bis 100-mal grösseren Kristalleinheitszellen.
Dem Team um Kovalenko und Bodnarchuk gelang es nun, das Wissen mit ihrer jüngsten Arbeit in «Nature» deutlich zu erweitern: Sie machten sich daran, eine Mischung verschiedener Formen zu untersuchen – zunächst Kugeln und Würfel. Diese scheinbar simple Abweichung von den bisherigen Versuchsanordnungen führte sofort zu ganz anderen Beobachtungen. Die würfelförmigen Nanokristalle, kolloidale Cäsium-Bleihalogenid-Perowskit-Nanokristalle, gelten seit ihrer erstmaligen Herstellung durch dasselbe Forschungsteam vor rund sechs Jahren als einige der hellsten bisher entwickelten Lichtstrahler. Die nun hergestellten Supergitter sind nicht nur hinsichtlich ihrer Struktur einzigartig, sondern auch in Bezug auf einige ihrer Eigenschaften. Insbesondere zeigen sie Superfluoreszenz – das heisst, sie strahlen das Licht kollektiv und viel schneller ab, als es dieselben Nanokristalle in ihrem herkömmlichen Zustand, als Flüssigkeit oder als Pulver, tun können.
Entropie als ordnende Kraft?
Beim Mischen von Kugeln und Würfeln geschehen wundersame Dinge: Die Nanokristalle ordnen sich zu Strukturen an, die man aus der Welt der Mineralien wie Perowskite oder Steinsalz kennt. Die neuen Strukturen sind jedoch 100-mal grösser als ihre Pendants in herkömmlichen Kristallen. Und mehr noch: Eine Perowskit-ähnliche Struktur war zuvor noch nie in der Anordnung solcher nicht wechselwirkender Nanokristalle beobachtet worden.
Besonders kurios: Diese hochgradig geordneten Strukturen entstehen allein durch die Kraft der Entropie – also dem ewigen Bestreben der Natur, maximale Unordnung hervorzurufen. Welche Ironie der Naturgesetze! Dieses paradoxe Verhalten kommt zustande, weil die Teilchen während der Kristallbildung dazu neigen, den Raum um sich herum möglichst effizient zu nutzen, um ihre Bewegungsfreiheit in den späten Phasen der Lösungsmittelverdampfung zu maximieren, kurz bevor sie in ihrer späteren Kristallgitterposition «fixiert» werden. In dieser Hinsicht spielt die Form der einzelnen Nanokristalle eine entscheidende Rolle – weiche Perowskit-Würfel erlauben eine viel dichtere Packung als jene, die in Mischungen nur aus Kugeln erreicht werden kann. Die Kraft der Entropie sorgt also dafür, dass sich die Nanokristalle immer in einer möglichst dichten Packung anordnen – sofern die Oberfläche der Kristallite so gestaltet ist, dass sie sich nicht gegenseitig anziehen oder abstossen, etwa durch elektrostatische Kräfte.
Aufbruch in eine neue Wissenschaft
«Unsere Experimente haben gezeigt, dass wir neue Strukturen mit hoher Zuverlässigkeit herstellen können», so Maksym Kovalenko. «Und das wirft nun viele weitere Fragen auf, wir stehen noch ganz am Anfang: Welche physikalischen Eigenschaften weisen solche schwach gebundenen Supergitter auf, und wie hängt ihre Struktur mit den beobachteten Eigenschaften zusammen? Können wir sie für bestimmte technische Anwendungen nutzten, etwa für optische Quantencomputer oder in der Quantenbildgebung? Nach welchen mathematischen Gesetzen bilden sie sich? Sind sie wirklich thermodynamisch stabil oder nur in einer kinetischen Barriere gefangen?» Kovalenko ist nun auf der Suche nach Theoretikern, die vielleicht vorhersagen können, was noch alles passieren könnte.
«Wir werden irgendwann ganz neue Klassen von Kristallen entdecken», vermutet er, «solche, für die es keine natürlichen Vorbilder gibt. Sie müssen dann vermessen, klassifiziert und beschrieben werden.» Nachdem er nun das erste Kapitel im Lehrbuch für eine neue Art von Chemie aufgeschlagen hat, will Kovalenko mit seinem Team dafür sorgen, dass es rasch vorangeht: «Wir experimentieren zurzeit mit scheiben- und zylinderförmigen Nanokristalliten. Und wir sind sehr gespannt auf die neuen Strukturen, die wir da bald zu sehen bekommen werden», lächelt er.