Chemische Beziehungsspiele entwirrt

Wissenschaftler stoßen in eine Größenordnung vor, die Anwendungen in vielen Bereichen der Chemie ermöglicht

12.08.2021 - Österreich

Den Wettstreit zweier wichtiger Reaktionsmechanismen der organischen Chemie haben Physiker um Roland Wester von der Universität Innsbruck im Labor genau beobachtet. Die detaillierte Untersuchung der Reaktionsdynamik eines aus neun Atomen bestehenden Reaktionskomplexes ist bisher einzigartig. Damit stoßen die Wissenschaftler in eine Größenordnung vor, die Anwendungen in vielen Bereichen der Chemie ermöglicht.

AG Wester

Die Reaktionsprodukte der nukleophilen Substitutionsreaktion zeigen sich links im Bild, jene der Eliminierungsreaktion rechts.

Mit Laborexperimenten versucht der zweifache ERC-Preisträger Roland Wester vom Institut für Ionenphysik und Angewandte Physik der Universität Innsbruck einen neuen Blick auf chemische Reaktionen zu werfen und deren Dynamiken besser zu erfassen. Reaktionen kleiner Moleküle werden heute schon sehr gut verstanden. Sobald mehr als vier Atome involviert sind, wird es sowohl für die Theorie als auch im Experiment schwierig, die Abläufe einer Reaktion im Detail zu beschreiben. Roland Wester hat mit seinem Team ein einzigartiges Experiment gebaut, mit dem Moleküle mit Ionen zur Reaktion gebracht und beobachtet werden können. So ist es den Wissenschaftlern erstmals gelungen, die atomare Dynamik der sogenannten nukleophilen Substitutionsreaktion exakt zu beschreiben. Vor einigen Jahren untersuchte die Forschungsgruppe den Wettstreit zweier chemischer Reaktionen an organischen Verbindungen. In einer Vakuumkammer brachten die Forscher diese Moleküle mit geladenen Teilchen aus der chemischen Gruppe der Halogene, wie Fluor, Iod oder Chlor, zur Kollision. Dabei zeigte sich erstmals durch direkte Beobachtung, dass bei größeren Molekülen die Eliminierungsreaktion die Überhand gewinnt und die Substitutionsreaktion irgendwann verschwindet.

Hochdimensionale Reaktionsdynamik

Bisher war noch nicht bekannt, was in jenem Größenbereich passiert, wo beide Reaktionen ähnlich wichtig sind. Um dies zu untersuchen, waren weitere theoretische Arbeiten notwendig, die in den vergangenen Jahren von Forschern um Gábor Czakó an der Universität in Szeged, Ungarn, geleistet wurden. Sie haben eine sogenannte Born-Oppenheimer-Potentialfläche errechnet, mit der der Ablauf der chemischen Reaktion eines aus acht Atomen bestehenden Moleküls mit einem Halogen-Ion detailliert beschrieben werden kann. Beachtlich dabei ist, dass die untersuchte Reaktion in 21 Dimensionen abläuft. Die theoretisch ermittelte Potentiallandschaft gibt Auskunft, wie sich die einzelnen Atome während der chemischen Reaktion in diesem hochdimensionalen Raum bewegen können. Daraus konnten die Innsbrucker Wissenschaftler um Eduardo Carrascosa, Jennifer Meyer und Roland Wester eine sehr präzise Vorhersage erstellen, in welcher räumlichen Richtung die Reaktionsprodukte in ihrem Experiment davonfliegen werden. Denn sie messen den Winkel und die Geschwindigkeit, mit der die Ionen auf einem Detektor auftreffen. „Und unsere Daten zeigen, dass wir genau das gemessen haben, was die Theorie ohne Kenntnis der experimentellen Daten berechnet hat“, freut sich Wester. „Mit so vielen Atomen und damit so hochdimensional ist dies bisher noch nicht gelungen.“
Damit haben die Wissenschaftler die chemische Reaktion, in der zwei unterschiedliche Reaktionsmechanismen ablaufen, theoretisch und experimentell umfassend beschrieben. Mit dieser nun in der Fachzeitschrift Nature Chemistry erschienenen Arbeit kommen die Innsbrucker Physiker hinsichtlich der Zahl der beteiligten Atome für die detaillierte Untersuchung der Reaktionsdynamik in eine Region, die Anwendungen in vielen Bereichen komplexer chemischer Reaktionen ermöglicht.

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