Röntgenanalyse zeigt Weg zu flexiblen und transparenten Magneten
Organische Radikale könnten ein nachhaltiger Ersatz für Seltene Erden werden
University of Tübingen, Benedetta Casu
Magnetismus ist der Menschheit seit mehreren tausend Jahren bekannt, lange bevor sich diese Eigenschaft der Materie in einer Theorie beschreiben ließ. „Aus unserem Alltag kennen wir klassische Magnete aus Metallen oder Legierungen Seltener Erden, harte Materialien wie die Magnete, die unseren Kühlschrank schmücken“, sagt Casu. „Stellen wir uns nun eine Klasse von Materialien vor, die ein magnetisches Moment haben, ohne Metall-Ionen zu enthalten, und die nur aus leichten Elementen wie Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff bestehen, transparente, leichte und flexible Materialien. Sie hätten niedrigere Produktionskosten und könnten nachhaltig hergestellt werden. Diese Klasse von Materialien gibt es tatsächlich: Es ist die Familie der organischen Radikale.“
Diese Radikale sind organische Moleküle, die ein ungepaartes Elektron besitzen. Das resultiert in einem permanenten magnetischen Moment, das nicht auf die Wirkung eines äußeren Magnetfeldes zurückzuführen ist. „Organische Radikale sind sehr vielversprechende Materialien für die Elektronik und die Quantentechnologie“, betont Tobias Junghöfer von der Universität Tübingen, einer der Hauptautoren der Arbeit. Um diese Radikale in einem entsprechenden Gerät zu verwenden, müssen sie jedoch in der Regel als dünner Film auf einem Substrat wie Siliziumdioxid (SiO2) aufgetragen werden, rund tausendmal dünner als ein menschliches Haar. „Bislang kannte man den Magnetismus rein organischer Radikale nur von Kristallen, während er von dünnen Filmen völlig ungeklärt war. Das war noch nie untersucht worden, weil dies eine große Herausforderung ist“, erläutert Casu.
Vor einem Jahrzehnt waren solche Messungen technisch noch nicht möglich. „Dann entwickelten unsere Kollegen an der Universität Hamburg eine Anlage für Hochmagnetfeldmessungen bei ultrakalten Temperaturen bis hinunter zu 0,1 Kelvin, also sehr nahe am absoluten Nullpunkt und viel kälter als die Temperatur des Weltraums“, berichtet Casu. „Dies erfordert jedoch Synchrotronlicht aus einer modernen Quelle wie PETRA III. Die Kombination aus der Beamline P04 an PETRA III und unserer Maschine ist einzigartig, und es ist die einzige Einrichtung auf der Welt, in der es möglich ist, diese Ergebnisse zu erzielen.“
Das erste derartige Experiment wurde 2016 durchgeführt. „Die Messungen waren sehr zeitaufwändig, da es mehrere Tage dauert, die Probe auf weniger als ein Kelvin abzukühlen, und 100 bis 150 Scans an verschiedenen Punkten der Probe für ein einziges gemitteltes Spektrum durchgeführt werden mussten“, erläutert Ko-Autor Michael Martins von der Universität Hamburg. Das Team verwendete eine Technik namens zirkularer magnetischer Röntgendichroismus (XMCD), eine maßgeblich bei DESY etablierte Methode zur Untersuchung klassischer Magnete und ihres magnetischen Verhaltens. Die Technik war jedoch noch nie bei rein organischen Materialien eingesetzt worden. XMCD ist ein elementspezifisches Messverfahren, das alle Elemente eines Materials identifizieren kann, basierend auf der Absorption zirkular polarisierter Röntgenstrahlung, die zu so genannten elektronischen Übergängen in der Probe führt.
„Wir haben ein starkes Magnetfeld bei sehr niedriger Temperatur angelegt, um die magnetischen Momente aller Moleküle in unserem Radikalfilm entlang des Feldes auszurichten", erklärt Ivan Baev von der Universität Hamburg, ebenfalls einer der Hauptautoren der Arbeit. „Die Absorptionsspektren wurden einmal mit links zirkular polarisiertem Licht und einmal mit rechts zirkular polarisiertem Licht gemessen.“
Die Auswertung der Messungen war nicht einfach. „Es hat lange gedauert, die Daten zu interpretieren, da es sich um das erste Experiment dieser Art handelt, aber es hat sich sehr gelohnt“, berichtet Casu. „Wir haben gezeigt, dass vollständig organische, leichte und transparente Radikal-Dünnschichten einen langreichweitigen Magnetismus aufweisen, und dass ihr magnetisches Verhalten bei der Herstellung der Schichten beeinflusst werden kann, zum Beispiel durch Änderung der Temperatur des Substrats während der Beschichtung. Dies macht organische Radikale zu vielversprechenden Kandidaten für neuartige und nachhaltige magnetische Materialien.“
An der Arbeit waren Forscherinnen und Forscher der Universitäten Tübingen und Hamburg, dem Italienischen Institut für Nanowissenschaften in Modena, dem Helmholtz-Zentrum Berlin, und der Universität von Nebraska in Lincoln (USA) beteiligt.
Originalveröffentlichung
Tobias Junghoefer, Arrigo Calzolari, Ivan Baev, Mathias Glaser, Francesca Ciccullo, Erika Giangrisostomi, Ruslan Ovsyannikov, Fridtjof Kielgast, Matz Nissen, Julius Schwarz, Nolan M. Gallagher, Andrzej Rajca, Michael Martins, Maria Benedetta Casu; "Magnetic behaviour in metal-free radical thin films"; Chem; 2021