Endstation Chaos: Auf der Jagd nach Hochentropie-Kristallen
Spezielles Synthesegerät kann vielerlei chemische Mixturen wie am Fliessband nacheinander testen
Empa
Die Natur strebt nach Chaos. Das ist ein schöner, tröstlicher Satz, wenn wieder einmal eine Kaffeetasse über der Computertastatur umgestürzt ist und man sich vorstellt, man könnte die zuckrige, milchige Brühe wieder in die Kaffeetasse zurückwünschen – wo sie noch Sekunden zuvor gewesen war. Doch mit dem Wünschen wird das nichts. Denn, wie gesagt, die Natur strebt nach Chaos.
Wissenschaftler haben für diesen Effekt den Begriff der Entropie geprägt – ein Mass für die Unordnung. In den meisten Fällen gilt: Nimmt die Unordnung zu, dann laufen Prozesse spontan ab, und der Rückweg in die zuvor herrschende Ordnung ist versperrt. Siehe die ausgeschüttete Kaffeetasse. Auch thermische Kraftwerke, die aus einem ordentlichen Stapel Holz oder einem Häufchen Steinkohle eine gewaltige Dampfwolke über ihrem Kühlturm erzeugen, arbeiten getrieben von der Entropie. Die Unordnung nimmt bei vielen Verbrennungsprozessen dramatisch zu – und der Mensch nutzt dies aus und zapft aus dem laufenden Prozess ein bisschen Energie in Form von Elektrizität für seine Zwecke ab.
Kann Entropie etwas stabilisieren?
Kristalle gelten als das schiere Gegenteil von Unordnung. In einer Kristallstruktur sind alle Gitterbausteine sauber und auf kleinstmöglichem Volumen dicht nebeneinander sortiert. Umso bizarrer wirkt die Idee, man könne Kristalle durch die Kraft der Entropie stabilisieren und so eine neue Materialklasse erschaffen. Doch genau das wird an der Empa versucht.
Entropie-stabilisierte Materialien sind ein noch junges Forschungsgebiet. Den Anfang machten 2004 sogenannte Hochentropie-Legierungen, also Gemische von fünf oder mehr Elementen, die sich untereinander vermengen lassen. Wenn die Mischung gelingt und alle Elemente homogen in der Legierung verteilt sind, zeigen sich bisweilen besondere Eigenschaften, die nicht von den einzelnen Zutaten herrühren, sondern von deren Mixtur. Die Wissenschaftler nennen dies «Cocktail-Effekte».
Auch in der Hitze regiert das Chaos
Seit 2015 ist bekannt, dass sich sogar keramische Kristalle durch die «Kraft der Unordnung» stabilisieren lassen. Die Auswahl der Kristallbausteine nimmt dadurch sogar noch zu: Es passen auch übergrosse und zu kleine Bausteine in den Kristall, die ihn im Normalfall zerstören würden. Auf diese Weise gelang es dem Empa-Team bereits neun verschiedene Atome in einen Kristall einsetzen. Der Vorteil: Selbst, wenn solche Kristalle hohen Temperaturen ausgesetzt sind, bleiben sie stabil – denn eine «Umsortierung» würde zu grösserer Ordnung führen. Das natürliche Streben nach maximaler Unordnung stabilisiert also die ungewöhnliche Kristallstruktur – und damit das gesamte Material – auch unter Extrembedingungen.
«Bei bis zu vier Komponenten im Kristall ist alles noch normal, ab fünf Komponenten ändert sich die Welt», erläutert Michael Stuer, Forscher in der Empa-Abteilung «High Performance Ceramics». Seit der in Luxemburg aufgewachsene Forscher 2019 an die Empa kam, bearbeitet er das Forschungsfeld der Hochentropie-Kristalle. «Diese Materialklasse eröffnet uns eine Vielzahl neuer Chancen», sagt Stuer. «Wir können mit Hilfe der Entropie zum Beispiel Kristalle stabilisieren, die sonst aufgrund innerer Spannungen zerfallen würden. Und wir können hochaktive Kristalloberflächen schaffen, die es vorher noch nie gab, und nach interessanten Cocktail-Effekten suchen.»
Gemeinsam mit seiner Kollegin Amy Knorpp macht sich Stuer nun auf den Weg ins Unbekannte. Die beiden sind Spezialisten für die Herstellung von feinem Kristallpulver, und sie haben an der Empa Kolleginnen und Kollegen für Röntgen- und Oberflächenanalytik, um die hergestellten Proben genauestens zu charakterisieren. Mit deren Hilfen will Michael Stuer nun in der internationalen Szene vorne mitspielen. «Die Zahl der Publikationen zum Thema Hochentropie-Kristalle steigt gerade sehr stark. Und wir möchten von Beginn an dabei sein», sagt der Forscher.
Inseln des Wissens
Nun ist systematisches Vorgehen, Fachkenntnis und eine gute Portion Beharrlichkeit gefragt. Wo fängt man an? Welche Richtung schlägt man ein? «Es gibt im Moment noch keine zusammenhängende Expertise, noch keinen vollständigen Überblick über dieses neue Forschungsgebiet», so Stuer. «Verschiedene Forschungsgruppen auf der Welt arbeiten an begrenzten Projekten. So entstehen einzelne Inseln des Wissens, die im Laufe der nächsten Jahre zusammenwachsen müssen.»
Michel Stuer und Amy Knorpp konzentrieren sich auf katalytisch aktive Materialien. Bei der chemischen Reaktion, für die sie sich interessieren, geht es um die Verbindung von CO2 und Wasserstoff zu Methan. Aus einem Treibhausgas soll also ein nachhaltiger, speicherbarer Brennstoff werden. «Wir wissen, dass CO2-Moleküle auf bestimmten Oberflächen besonders gut adsorbiert werden und die gewünschte Reaktion dann leichter und schneller abläuft», sagt Amy Knorpp. «Nun versuchen wir entropische Kristalle herzustellen, an deren Oberflächen solche hochaktiven Bereiche existieren.»
Mischungen am Fliessband
Um rascher voranzukommen haben die Forscher mit Hilfe der Empa-Werkstatt ein spezielles Synthesegerät gebaut, in dem vielerlei chemische Mixturen wie am Fliessband nacheinander getestet werden können. Im «Tubular Flow Reactor» laufen kleine Bläschen durch einen Schlauch, in denen die jeweilige Reaktion abläuft. Am Ende werden die Bläschen entleert, und das darin enthaltene Pulver kann weiterverarbeitet werden.
«Der 'Tubular Flow Reactor' hat einen riesigen Vorteil für uns: Alle Bläschen sind gleich gross, darum haben wir für unsere Synthesen immer ideale und gleichbleibende Randbedingungen», erläutert Stuer. «Falls wir von einer besonders vielversprechenden Mischung grössere Mengen brauchen, produzieren wir einfach mehrere Bläschen mit der gleichen Mixtur nacheinander.»
Die Fenster auf der richtigen Seite
Aus der dem Vorprodukt-Pulver werden dann durch verschiedene Trocknungsverfahren feine Kristalle der gewünschten Grösse und Form. Hier kommt die Expertise der Keramikspezialisten erneut zum Tragen. «Kristalle sind wie Häuser, sie haben geschlossene Aussenwände und welche mit Fenstern», erläutert Michael Stuer. «Wenn ich nun eine hohe Affinität mit dem Nachbarkristall anstrebe, muss ich dafür sorgen, dass die Fensterseite zum Nachbarn schaut, sonst wird nichts passieren.» Manchmal deutet allein schon die Form des Kristalls auf die Fensterseite hin. Etwa dann, wenn eine Mixtur nadelförmige Kristalle ausbildet. «Die langen Seiten der Nadel sind die energieärmeren. Da passiert nicht viel. Die Kristallkanten an den Nadelspitzen sind dagegen hochenergetisch. Dort wird es interessant», so Stuer.
Für ihr erstes, grosses Projekt haben sich die Empa-Forscher mit Kolleginnen und Kollegen vom Paul-Scherrer-Institut (PSI) zusammengetan. Diese untersuchen in einem Versuchsreaktor die mögliche Methanisierung von CO2. Das CO2 stammt dabei aus Biogasanlagen und Klärwerken. Die PSI-Forschenden haben bereits Erfahrungen mit verschiedenen Katalysatoren gesammelt und stossen immer wieder auf ein Problem: Der Katalysator, an dessen Oberfläche die chemische Reaktion stattfindet, wird mit der Zeit schwächer. Das liegt daran, dass Schwefel-Anteile im Biogas die Oberfläche verschmutzen oder dass sich bei hohen Temperaturen die Katalysator-Oberflächen chemisch umwandeln.
Hier suchen die Forscherinnen und Forscher nach einem Durchbruch mit Hilfe von entropischen Kristallen; denn diese sortieren sich auch bei hohen Temperaturen nicht um – sie werden ja durch Chaos stabilisiert. «Wir hegen die Hoffnung, dass unsere neuartigen, entropischen Kristalle bei dem Prozess länger durchhalten und möglicherweise gegen Schwefel-Verschmutzungen unempfindlicher sind», sagt Stuer.
Eine Landkarte zeichnen
Ist gemeinsam mit den Forschenden am PSI erst einmal ein Weg gefunden, um diese Probleme zu lösen, dann sind die Empa-Kristallspezialisten parat für weitere Herausforderungen: etwa Hochleistungsbatterien, supraleitende Keramik oder Katalysatoren für Auto-Abgase und andere chemische Produktionsprozesse. «Es ist ein dunkler Wald, in den wir da hineinlaufen», sagt Amy Knorpp. «Aber wir haben eine Vermutung, in welcher Richtung etwas zu finden ist. Nun zeichnen wir eine Landkarte dieser Systeme. Irgendwo da draussen, so denken wir, ist eine Schatztruhe voller Erkenntnisse verborgen.»