Attosekunden-Stoppuhr für Kristalle
Dynamik beweglicher Elektronen in Festkörpern mit noch nie erreichter Zeitauflösung vermessen
Brad Baxley (parttowhole.com)
Einer Gruppe von Physiker:innen um Prof. Dr. Rupert Huber vom Institut für Experimentelle und Angewandte Physik der Universität Regensburg und Prof. Dr. Mackillo Kira vom Department of Electrical Engineering and Computer Science an der University of Michigan, USA, ist es nun erstmals gelungen, die ultraschnelle Bewegung freier Elektronen in Festkörpern mit der aberwitzigen Präzision von nur wenigen Hundert Attosekunden zu verfolgen. Diese Auflösung reicht aus, um kleinste Änderungen in der Dynamik von Elektronen durch Anziehung anderer Ladungsträger oder komplexe Vielteilchenkorrelationen zu untersuchen. Über die Ergebnisse berichtet das Forschungsteam in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature.
Eine Attosekunde entspricht dem milliardsten Bruchteil einer Milliardstel Sekunde – sie verhält sich zu einer Sekunde wie eine Sekunde zum doppelten Alter des Universums. Selbst Licht würde in einer Attosekunde lediglich eine Wegstrecke von der Größenordnung eines Atomdurchmessers zurücklegen. Um die Bewegung von Elektronen auf derart kurzen Zeitskalen zu vermessen, entwickelten die Forscher:innen eine neuartige Attosekunden-Stoppuhr. Als Unruh dient die schwingende Trägerwelle von Licht – das schnellste vom Menschen kontrollierbare Wechselfeld überhaupt. Das Lichtfeld bringt die Ladungsträger regelrecht auf eine Teststrecke durch den Festkörper. Es beschleunigt Elektronen in Halbleiterproben erst in eine Richtung, um sie nach Umpolen der Feldrichtung anschließend mit den Lücken, von denen sie entfernt wurden, sogenannten Löchern, zu rekollidieren. Dabei wird Licht emittiert. Die Kollisionen laufen nicht immer gleich wahrscheinlich ab, sondern hängen davon ab, zu welchem Zeitpunkt des beschleunigenden Lichtfeldes ein Elektron seine Bewegung beginnt.
Die Forscher:innen vermaßen diesen Kollisionspfad zeitlich genauer als ein Hundertstel Bruchteil einer Lichtschwingungsperiode und konnten so zeigen, wie unterschiedlich starke Anziehung zwischen Ladungsträgern ihre Dynamik verändert. „Genau wie man selbst bei dichtem Verkehr lieber früher losfahren sollte, um noch rechtzeitig ans Ziel zu gelangen, müssen Elektronen ihren Kollisionskurs früher starten, wenn es in einem Kristall viele und starke Begegnungen zwischen Elektronen gibt“, erklärt Erstautor Josef Freudenstein vom Institut für Experimentelle und Angewandte Physik der Universität Regensburg begeistert.
Um den Einfluss verschieden starker Anziehungskräfte zwischen Ladungsträgern zu untersuchen, haben die Forscher:innen neben einer Volumenprobe des Halbleitermaterials Wolframdiselenid eine einzelne Atomschicht des selben Materials untersucht. In einem solchen minimal dicken exotischen Festkörper erhöht sich die Anziehung zwischen den Ladungsträgern um ein Vielfaches und die Bewegung der Elektronen verändert sich. Außerdem konnten noch weitere maßgeblich bestimmende Größen für die Dynamik der Ladungsträger untersucht werden: Wird das beschleunigende Lichtfeld verstärkt, vollenden Elektronen ihren Kollisionskurs schneller. Das gleiche Resultat wird auch beobachtet, wenn viele Elektronen zeitgleich ihre Bewegung starten. Dann schirmen sie sich gegenseitig ab und die Ladungsträger sehen nur noch schwache Anziehungskräfte.
Aus der Zeit, die Elektronen benötigen um ihre Teststrecke zu absolvieren, lässt sich also nicht nur erschließen, dass Interaktion stattgefunden hat, sondern auch wie. „Auf der Attosekundenzeitskala lassen sich Wechselwirkungseffekte nicht mehr mit den Gesetzen der klassischen Physik erklären sie sind vielmehr rein quantenmechanischer Natur. Direkt in der Zeitdomäne zu verfolgen, wie sie die Bewegung der Elektronen beeinflussen, ist immens hilfreich, um modernste Vielteilchen-Quantentheorien zu testen“, erläutert Prof. Dr. Mackillo Kira, dessen Gruppe die mikroskopische Dynamik mit quantenmechanischen Rechnungen simulieren konnte.
„Lange war die vorherrschende Meinung, dass die viel langsamere Femtosekunden-Zeitskala ausreicht, um festkörperrelevante Elektronendynamik zu beschreiben; diese Hypothese konnten wir klar widerlegen“, bilanziert Prof. Dr. Rupert Huber, der die Experimente in Regensburg leitet, und ergänzt: „Unsere Attosekunden-Stoppuhr könnte gute Dienste dabei leisten, Vielteilchenkorrelationen in modernen Quantenmaterialien besser zu verstehen und neue Trends für künftige Quanteninformationsverarbeitung zu setzen.“