Richtungsänderung: Forschungsteam entdeckt schaltbare elektronische Chiralität in einem Kagome-Supraleiter
Brad Baxley
Ob sich ein Objekt von seinem Spiegelbild unterscheidet oder nicht, hat wichtige Konsequenzen für sein physikalisches Verhalten. Ein Basketballspieler, sein Ball und die Umgebung sehen zum Beispiel auf den ersten Blick im Spiegel genau so aus wie in der Realität. Aber genauer betrachtet liegt der Ball nun nicht mehr in der rechten Hand des Spielers, sondern in seiner linken. Das Spiegelbild zeigt zwar immer noch dieselbe Hand, aber diese hat sich eindeutig von einer linken zu einer rechten Hand oder umgekehrt verändert. Viele andere physikalische Objekte unterscheiden sich – genau wie Spiegelbilder – in diesem wichtigen Aspekt, weshalb Wissenschaftler*innen sie als händisch oder chiral (von griechisch χϵρι = Hand) bezeichnen. Andere Objekte, wie eine Kugel, sind jedoch mit ihrem Spiegelbild identisch und daher achiral.
Die Chiralität ist eine der grundlegendsten geometrischen Eigenschaften und spielt in der Biologie, Chemie und Physik eine besondere Rolle. Sie kann überraschende Effekte hervorrufen: Eine Version des chiralen Carvonmoleküls riecht zum Beispiel nach Minze, sein chirale -- gespiegeltes -- Pendant dagegen nach Kümmel.
In der Materialwissenschaft unterscheidet man zwischen Kristallen, bei denen die periodische Anordnung der Atome chiral ist oder nicht. Ist sie chiral, müssen sich auch die darin fließenden Elektronen und elektrischen Ströme irgendwie von ihrem Spiegelbild unterscheiden – eine Eigenschaft, die zu exotischen Reaktionen und neuen Anwendungen führen kann. Ein Beispiel hierfür ist ein diodenähnlicher Effekt, bei dem die elektrischen Ströme, die von links nach rechts fließen, sich von denen unterscheiden, die von rechts nach links fließen. Diese Eigenschaft wird als elektronische magneto-chirale Anisotropie (eMChA) bezeichnet. Bislang wurde dieses Phänomen nur in strukturell chiralen Kristallen beobachtet.
Nun hat ein internationales Forschungsteam jedoch die erste Beobachtung dieses chiralen Transports in einem strukturell achiralen Kristall, dem Kagome-Supraleiter CsV₃Sb₅, gemeldet. Seine Arbeit wurde in Nature veröffentlicht. An dem Team waren Wissenschaftler*innen des MPSD und des Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe, der EPFL und der Universität Zürich in der Schweiz, der University oft the Basque Country (Spanien) sowie der Qingdao University in China beteiligt.
Das Quantenrätsel ist so einfach wie tiefgründig: Wenn die Anordnung der Atome im Kristall genau dieselbe ist wie in ihrem Spiegelbild, wie ist es dann möglich, dass dies nicht auf seine Elektronen zutrifft? Es muss ein neuartiger Mechanismus im Spiel sein, der über einen einfachen Formeffekt wie in unseren Händen hinausgeht. Im Gegensatz zur strukturellen Chiralität, die in einem Kristall so fest verankert ist wie in einer menschlichen Hand, kann diese neue elektronische Chiralität durch Magnetfelder umgeschaltet werden. Solch eine schaltbare Chiralität wurde noch nie zuvor beobachtet und könnte für zukünftige Technologien eine wichtige Rolle spielen.
Es liegt auf der Hand, dass dieses ungewöhnliche Verhalten direkt mit den starken elektronischen Wechselwirkungen zusammenhängt. Das Team schlägt ein Modell vor, bei dem sich die Elektronen in Mustern anordnen, die nicht der Spiegelsymmetrie entsprechen, obwohl die Atome symmetrisch angeordnet sind.
CsV₃Sb₅ ist bereits für viele wechselwirkende elektronische Strukturen bekannt, wie zum Beispiel die Bildung einer unkonventionellen chiralen Ladungsordnung mit einer interessanten Ladungsmodulation. Diese chiralen elektronischen Strukturen können spontan rotieren und damit ein Magnetfeld erzeugen, wie von C. Mielke et al. in Nature 2022 beschrieben.
CsV₃Sb₅ präsentiert sich als ein fantastisches Material für die Untersuchung korrelierter Quantenphänomene und liefert zugleich das erste Beispiel für schaltbare elektronische Chiralität. Zu den nächsten Schritten gehört die Erweiterung des Nutzungsbereichs von der Tiefst- auf die Raumtemperatur und die Verbesserung des Ausmaßes dieser Reaktion. Wechselwirkende Systeme auf geometrisch frustrierten Gittern bergen großes Potenzial für die Zukunft.