Quantenchemie: Moleküle beim Tunneln erwischt
Durchbruch nach 15 Jahre Forschungsarbeit
Harald Ritsch, Universität Innsbruck
Tunnelreaktionen in der Chemie lassen sich nur sehr schwer vorhersagen. Die quantenmechanisch exakte Beschreibung von chemischen Reaktionen mit mehr als drei Teilchen ist schwierig, mit mehr als vier Teilchen nahezu unmöglich. Theoretiker simulieren diese Reaktionen mit klassischer Physik und müssen Quanteneffekte dabei vernachlässigen. Wo aber liegt die Grenze dieser klassischen Beschreibung von chemischen Reaktionen, die nur Näherungen liefern kann?
Schon lange wollte Roland Wester vom Institut für Ionenphysik und Angewandte Physik der Universität Innsbruck diese Grenze ausloten. „Es braucht dafür ein Experiment, das sehr präzise Messungen erlaubt und quantenmechanisch noch beschrieben werden kann“, sagt der Experimentalphysiker. „Die Idee dazu kam mir vor 15 Jahren im Gespräch mit einem Kollegen bei einer Konferenz in den USA“, erinnert sich der Physiker sich. Wester wollte dem quantenmechanischen Tunneleffekt in einer sehr einfachen Reaktion nachspüren.
Da der Tunneleffekt die Reaktion sehr unwahrscheinlich und damit langsam macht, war ihre experimentelle Beobachtung außerordentlich schwierig. Nach mehreren Anläufen gelang seinem Team nun genau aber dies zum ersten Mal, wie die Fachzeitschrift Nature in ihrer aktuellen Ausgabe berichtet.
Durchbruch nach 15 Jahre Forschungsarbeit
Das Team um Roland Wester wählte für ihr Experiment Wasserstoff – das einfachste Element im Universum. Sie brachten Deuterium – ein Wasserstoff-Isotop – in eine Ionenfalle ein, kühlten es ab und füllten die Falle anschließend mit Wasserstoff-Gas. Aufgrund der sehr tiefen Temperaturen fehlt den negativ geladenen Deuterium-Ionen die Energie, um auf konventionelle Weise mit den Wasserstoff-Molekülen zu reagieren. In sehr seltenen Fällen kommt es beim Zusammenstoß der beiden dennoch zu einer Reaktion.
Ursache dafür ist der Tunneleffekt: „Die Quantenmechanik erlaubt es, dass Teilchen aufgrund ihrer quantenmechanischen Welleneigenschaften die energetische Barriere durchbrechen und es zu einer Reaktion kommt“, erklärt Erstautor Robert Wild. „In unserem Experiment geben wir möglichen Reaktionen in der Falle circa 15 Minuten Zeit und bestimmen dann die Menge der entstandenen Wasserstoff-Ionen. Aus deren Anzahl können wir ableiten, wie oft es zu einer Reaktion gekommen ist.“
Theoretische Physiker hatten 2018 errechnet, dass es dabei nur in einem von 100 Milliarden Stößen zum sogenannten Quantentunneln kommt. Das deckt sich sehr gut mit den nun in Innsbruck gemessenen Werten und bestätigt nach 15 Jahren Forschungsarbeit erstmals ein präzises theoretisches Modell für den Tunneleffekt in einer chemischen Reaktion.
Grundlage für besseres Verständnis
Es gibt weitere chemische Reaktionen, hinter denen die Wissenschaft den Tunneleffekt vermutet. Nun liegt erstmals eine Messung vor, die auch theoretisch gut verstanden wird. Darauf aufbauend kann die Forschung einfachere theoretische Modelle für chemische Reaktionen entwickeln und diese an der nun erfolgreich demonstrierten Reaktion testen.
Anwendung findet der Tunneleffekt zum Beispiel im Rastertunnelmikroskop und in Flash-Speichern. Mit Hilfe des Tunneleffekts wird auch der Alpha-Zerfall von Atomkernen erklärt. Durch Einbeziehung des Tunneleffekts sind aber auch manche astrochemische Synthesen von Molekülen in interstellaren Dunkelwolken erklärbar. Das Experiment von Westers Team legt damit die Grundlage für ein besseres Verständnis vieler chemischer Reaktionen.