Materialforschung: Unlösbare Probleme in lösbare zerlegen

Der Computer findet selbst heraus, was man ignorieren kann

09.05.2023 - Österreich

Exakte Lösungen sind in der Materialphysik oft unmöglich. In einer internationalen Forschungskooperation unter Beteiligung der TU Wien wurde nun eine Technik entwickelt, unlösbare Quanten-Rechnungen auf bestimmten Skalen lösbar zu machen.

TU Wien

Markus Wallerberger und Anna Kauch

In der Physik hat man oft mit unterschiedlichen Skalen zu tun, die man getrennt voneinander beschreiben kann: Für die Bahn der Erde um die Sonne ist es völlig egal, ob ein Elefant im Zoo nach links oder nach rechts läuft. Und die Bewegung des Elefanten kann man beschreiben, ohne irgendetwas über die Eigenschaften der Elektronen in seinem Ohr wissen zu müssen. Die Welt lässt sich in unterschiedliche Skalen aufteilen.

Auch in der Materialforschung ist es wichtig, das Verhalten von Teilchen auf den passenden Skalen zu beschreiben. Man muss dafür allerdings zuerst herausfinden, welche Skalen die entscheidenden sind – eine schwierige Aufgabe, für die es bisher keine klare Lösungsstrategie gab. Man konnte höchstens hoffen, die Lösung mit viel Erfahrung zu erraten.

Nun wurde von einer internationalen Forschungskooperation unter Beteiligung der TU Wien aber eine mathematische Methode gefunden, die passenden Skalen rechnerisch zu ermitteln – ein wichtiger Schritt für die Suche nach besseren Materialien für unterschiedliche Einsatzbereiche, von Mikrochips bis zur Photovoltaik. Die Methode wurde nun im Fachjournal PRX publiziert.

Gerade die spannenden Probleme sind die schwierigen

„In der Materialphysik kann man Elektronen oft nicht getrennt voneinander betrachten“, sagt Anna Kauch, Leiterin eines FWF-Forschungsprojektes zu diesem Thema. „Gerade besonders spannende Phänomene wie Magnetismus oder Supraleitung kann man nur verstehen, wenn man viele Teilchen und ihre komplexen Wechselwirkungen gemeinsam beschreibt.“ Das ist aber in voller Exaktheit meist nicht möglich: Wenn viele Teilchen im Spiel sind, dann werden die Formeln der Quantentheorie rasch so groß und so komplex, dass man sie selbst mit den besten Supercomputern der Welt nicht exakt lösen kann – nicht einmal den Zustand der Teilchen kann man dann exakt aufschreiben, weil man dafür mehr Speicherplatz nötig wäre, als man je zur Verfügung haben wird.

Man muss daher bestimmte Näherungen suchen. Oft bestehen diese Näherungen darin, dass man in bestimmten Fällen bestimmte Größenskalen außer Acht lassen kann. „Manchmal kann man recht einfache physikalische Argumente dafür finden“, sagt Markus Wallerberger, einer der Autoren des Papers. „Ein typisches Beispiel dafür sind Elektronen und Atomkerne in einem Kristall: Die Elektronen sind sehr leicht, sie bewegen sich schnell. Die Atome sind viel schwerer – auf der Zeitskala, in der man die Bewegung der Elektronen beschreibt, kann man die Atome daher als starr und unbeweglich betrachten.“ In diesem Fall hat man ein kompliziertes Problem in zwei viel einfachere Probleme aufgeteilt: Man kann sich nun einerseits Gedanken über die schnelle Bewegung der Elektronen und andererseits über die viel langsamere Bewegung der Atome machen – und überlegen, wie beides miteinander zusammenhängt.

Der Computer findet selbst heraus, was man ignorieren kann

Doch was macht man, wenn es keine derartige intuitive Lösung erkennen kann? Bisher konnte man in diesem Fall nur raten. Doch nun gelang es, ein mathematisches Rezept für diese Situation zu entwickeln: „In unserem Paper zeigen wir, wie man die vollständige Beschreibung eines solchen Systems in unterschiedliche Skalen zerlegt“, erklärt Studienleiter Hiroshi Shinaoka, Professor an der Universität Saitama in Japan. „Dabei zeigt sich dann automatisch, welche Skalen wichtig sind, und welche man weglassen kann. Gleichzeitig sagt uns die Rechenmethode auch, wie die Kopplung zwischen den unterschiedlichen Skalen aussieht und wie man dann damit weiterrechnen kann.“ Die Methode bildet somit praktisch unlösbare Rechenaufgaben auf vergleichsweise leicht zu handhabende Teilprobleme auf, die mit einem winzigen Bruchteil an Speicherbedarf und Rechenzeit gelöst werden können. „Wir werden damit wichtige Eigenschaften von Materialien korrekt beschreiben können – etwa die elektrische Leitfähigkeit, das optische Reflexionsvermögen oder auch die Reaktion eines Materials auf ein Magnetfeld“, sagt Anna Kauch.

Materialforschung auf quantenphysikalischer Ebene ist heute in vielen Bereichen unverzichtbar: Von besseren Materialien für Photovoltaik über Energiespeicher bis hin zu energiesparenden Mikrochips – in all diesen Anwendungsbereichen kann man die Eigenschaften von Materialien nur verstehen und verbessern, wenn man das Verhalten der Elektronen auf Quanten-Ebene beschreiben kann. Für all diese Anwendungen liefert die neue Methode nun ein wichtiges neues Werkzeug. Die neue Methode öffnet auch einen Weg, künstliche Intelligenz in Zukunft besser in die Materialforschung einzubinden. In weiteren Forschungsprojekten wird das Team nun untersuchen, wie man die einfacheren, komprimierten Gleichungen nun auf zuverlässige Weise anwenden kann.

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