Neue Gläser aus dem Computer
Materialforschende entwickeln computergestützte Methoden, mit denen neue Gläser mit verbesserten Eigenschaften zeit- und energieeffizienter entwickelt werden können
Jens Meyer (University of Jena)
Anne Günther (University of Jena)
Für die Materialwissenschaft ist das jedoch ein Problem, denn anders als kristalline Materialien besitzt Glas keine geordnete innere Struktur. Stattdessen bleiben seine atomaren Bestandteile nach dem Abkühlen mehr oder weniger so angeordnet, wie sie auch im flüssigen Zustand vorlagen. Die Materialwissenschaftler sprechen von korrelierter Unordnung: es gibt zwar grundsätzlich keine wiederkehrende, periodische Anordnung der Atome, aber doch eben auch keine reine Zufälligkeit. Stattdessen existieren bestimmte Bauregeln und Zusammenhänge, die sich aus der Interaktion der Bestandteile miteinander ergeben. „Um chemische Rezepte für Gläser mit angepassten Eigenschaften zu finden, sind oftmals langwierige und experimentell aufwendige Optimierungsprozesse notwendig“, sagt Wondraczek. „Eine besondere Herausforderung ist es also, genau diejenigen Bauregeln und chemischen Zusammenhänge zu finden, die für eine bestimmte Eigenschaft oder Eigenschaftskombination von Bedeutung sind.“ So kann das Zusammenspiel bestimmter chemischer Komponenten zum Beispiel zur Verbesserung der mechanischen Festigkeit führen. Soll das Glas aber beispielsweise für Batterieanwendungen auch eine festgelegte Ionenleitfähigkeit aufweisen, könnten gänzlich andere chemische Zusammenhänge relevant sein. Aktuell haben die Forschenden um Lothar Wondraczek nun ein Verfahren vorgestellt, welches die Suche nach solchen korrelierten Abhängigkeiten zukünftig deutlich schneller und effizienter machen kann. Wie sie im Fachmagazin „Advanced Science“ berichten, erhoffen sie sich davon neue Wege zu Glaswerkstoffen mit optimierten Eigenschaften.
Welche „Gene“ bestimmen die Materialeigenschaften?
Die den praktischen Eigenschaften zugrundeliegenden struktur-chemischen Zusammenhänge werden – in Anlehnung an die Lebenswissenschaften – plakativ als „Gene“ bezeichnet; die Gesamtheit aller Eigenschaften eines Werkstoffs ergibt sich demnach aus seinem „Genom“. Exemplarisch haben sich die Jenaer Forschenden die Leitfähigkeit für Natriumionen zum Ziel gesetzt. Für diese soll in komplexen, sogenannten polyionischen Gläsern ergründet werden, welche Kombinationen chemischer Komponenten ursächlich für die praktisch erreichbare Leitfähigkeit sind. Solche ionenleitenden Gläser können zum Beispiel in Festkörperbatterien Anwendung finden. „Zunächst benötigen wir dafür einen ausreichend großen und verlässlichen Satz aus experimentellen Daten, welchen wir dann mit Methoden der Genomanalyse untersuchen können“, sagt Zhiwen Pan, Erstautor der vorgelegten Publikation. Vergleichbar mit in der Bioinformatik verwendeten Ansätzen wird so nach den eigenschaftsbestimmenden „Genen“ gesucht, nur dass es sich in diesem Fall um ein Material und nicht um einen lebenden Organismus handelt.
Das untersuchte polyionische Glas besteht aus einer Kombination von Oxiden, Fluoriden, Sulfaten, Phosphaten und Chloriden. Die beobachtbaren Materialeigenschaften ergeben sich aus Interaktionen dieser Vielzahl an chemischen Komponenten. Aufgrund der Komplexität sind Aussagen zur Struktur und räumlichen Anordnung der Grundelemente jedoch nur sehr begrenzt möglich, so dass resultierende Eigenschaften kaum vorhersagbar sind. Statt aufwendiger Laborversuche können optimale Zusammensetzungen nun mithilfe analytischer Modelle identifiziert werden. „Wir konnten außerdem zeigen, dass die gefundenen „Gene“ nun sehr gut zu dem Wenigen passen, was wir aus spektroskopischen Untersuchungen über die Struktur dieser Gläser wissen“, resümiert Wondraczek.
In der Tradition von Otto Schott
Bei seiner „Genomanalyse“ von Glas führt das Jenaer Team methodische Ansätze fort, die in Jena schon vor 130 Jahren von Otto Schott, dem Pionier der Glasforschung, eingeführt wurden. „Schott war der Erste, der moderne Gläser durch systematische Variationen der chemischen Zusammensetzung entwickelt hat. Aus seinen Beobachtungen hat er Zusammenhänge zwischen Chemie und praktischen Eigenschaften abgeleitet“, sagt Wondraczek. Zusammen mit dem Physiker Adolf Winkelmann, damals Professor an der Uni Jena, hat Schott diese Erkenntnisse in mathematische Regressionsmodelle überführt, in gewisser Weise ein Vorläufer dessen, was die Forschenden heute als Teil des „maschinellen Lernens“ anwenden.