Ein „Goldstandard“ für Rechencodes in den Materialwissenschaften

23.01.2024

Fachleuten aus Physik und Materialwissenschaften stehen eine ganze Reihe von Computercodes zur Verfügung, die das Verhalten von Materialien simulieren und deren Eigenschaften vorhersagen. Die Präzision der mit diesen Codes erzielten Ergebnisse hängt allerdings von den verwendeten Näherungen und den gewählten numerischen Parametern ab. Um zu überprüfen, ob die Ergebnisse der verschiedenen Codes vergleichbar, schlüssig untereinander und reproduzierbar sind, hat eine große Gruppe von Wissenschaftler*innen die bisher umfassendste Verifikationsstudie zu diesem Thema durchgeführt. Im Fachmagazin Nature Reviews Physics veröffentlicht bietet sie einen Referenzdatensatz sowie etliche Leitlinien zur Bewertung und Verbesserung bestehender und neuer Codes.

Giovanni Pizzi, EPFL

Künstlerische Darstellung der Zustandsgleichungen der Elemente des Periodensystems. Die zehn verschiedenen Kristallstrukturen, die für jedes der 96 untersuchten Elemente simuliert wurden, sind in der Tabelle abgebildet. Die Illustration ist auf dem Titelblatt der Januarausgabe 2024 von Nature Reviews Physics zu sehen.

Die von Forscher*innen in aller Welt verwendeten Computercodes bilden die Grundlage für zehntausende von wissenschaftlichen Artikeln pro Jahr. Diese Codes basieren in der Regel auf der Dichtefunktionaltheorie (DFT). Bei dieser Modellierungsmethode werden mehrere Näherungswerte verwendet, um die ansonsten überwältigende Komplexität der Berechnung des Elektronenverhaltens nach den Gesetzen der Quantenmechanik zu reduzieren. Die Unterschiede zwischen den mithilfe der verschiedenen Codes erzielten Ergebnissen resultieren aus den verwendeten numerischen Näherungen und den ihnen zugrunde liegenden numerischen Parametern. Häufig sind diese Parameter auf die Untersuchung bestimmter Materialklassen oder auf die Berechnung von Eigenschaften zugeschnitten, die für bestimmte Anwendungen wichtig sind, zum Beispiel die Leitfähigkeit für potentielle Batteriematerialien.

In ihrem kürzlich im Fachmagazin Nature Reviews Physics veröffentlichten Artikel stellen die Autor*innen die bisher umfassendste Verifizierung von DFT-Codes für Festkörper vor. Sie geben darin der Forschungscommunity Werkzeuge sowie eine Reihe von Leitlinien für die Bewertung und Verbesserung bestehender und künftiger Codes an die Hand. Das Projekt hat das National Centre for Computational Design and Discovery of Novel Materials (MARVEL) an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL, Schweiz) geleitet und koordiniert. Mehrere wesentliche Beiträge kamen von Prof. Thomas D. Kühne, Gründungsdirektor des Center for Advanced Systems Understanding (CASUS) am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR) und dessen Wissenschaftsmanager Dr. Hossein Mirhosseini. Beide brachten ihre Expertise als Mitglieder des CP2K-Entwicklerteams ein. CP2K ist ein Open-Source-Softwarepaket, das atomistische Simulationen von Festkörper-, Flüssig-, Molekular-, Material-, Kristall- und biologischen Systemen durchführen kann.

Mehr Elemente, mehr Kristallstrukturen

Die veröffentlichte Arbeit steht in der Nachfolge eines Science-Artikels aus dem Jahr 2016, in dem 40 unterschiedliche Berechnungsansätze miteinander verglichen wurden. Dabei wurden für jeden Ansatz die Energien von 71 Kristallen berechnet, von denen jeder einem Element des Periodensystems entsprach. Die Studie kam zu dem Schluss, dass die am häufigsten verwendeten Codes vergleichbare Ergebnisse liefern. „Diese Arbeit war zwar ermutigend, jedoch hat sie die chemische Vielfalt nicht ausreichend berücksichtigt“, sagt Dr. Giovanni Pizzi, Leiter der Materials Software and Data Group am Paul Scherrer Institut PSI in Villigen (Schweiz) und Hauptautor der neuen Veröffentlichung. „In dieser Studie haben wir 96 Elemente betrachtet und für jedes von ihnen zehn mögliche Kristallstrukturen simuliert.“ Dabei wurden für jedes der ersten 96 Elemente des Periodensystems vier verschiedene Unaries (Modifikationen) und sechs verschiedene Oxide untersucht. Unaries sind Kristalle, die nur aus Atomen eines Elements bestehen. Oxide dagegen enthalten auch Sauerstoffatome. Das Ergebnis ist ein Datensatz von 960 Materialien und ihren Eigenschaften, die mit zwei unabhängigen Vollelektronen-DFT-Codes, FLEUR und WIEN2k, berechnet wurden, die explizit alle Elektronen der betrachteten Atome berücksichtigen.

Dieser Datensatz kann nun von jedermann als Bezug verwendet werden, um die Genauigkeit anderer Codes zu überprüfen. Dies gilt insbesondere für Codes, die auf Pseudopotentialen beruhen. Hier werden – im Gegensatz zu Vollelektronen-Codes – die Elektronen, die nicht an chemischen Bindungen beteiligt sind, auf vereinfachte Weise behandelt, was die Berechnung erleichtert. Die Autor*innen verglichen die Ergebnisse neun solcher Pseudopotential-Codes mit denen aus dem Vollelektronen-Code-Datensatz. „Gemeinsam mit anderen Mitgliedern des CP2K-Teams waren wir am CASUS für die Entwicklung von Arbeitsabläufen und Standardberechnungsprotokollen sowie für die Durchführung von Berechnungen mit zwei in der CP2K-Software implementierten Pseudopotential-Methoden, nämlich Quickstep und SIRIUS, verantwortlich“, sagt Mirhosseini. „Das bedeutet, dass wir die Zustandsgleichungen aller 960 Kristalle, die mit den beiden Methoden berechnet wurden, mit den Vollelektronen-Referenzergebnissen verglichen haben. Unsere Ergebnisse könnten die Grundlage für eine Verbesserung der in CP2K implementierten Methoden darstellen“, fügt er hinzu.

Die Studie enthält zudem eine Reihe von Empfehlungen für all jene, die DFT-Code nutzen. Darin enthalten sind Tipps wie man sicherstellen kann, dass Berechnungsstudien reproduzierbar sind, wie man den Referenzdatensatz nutzt, um Verifizierungsstudien zu planen und durchzuführen und wie man den Datensatz um andere Code-Familien oder Materialeigenschaften erweitert. „Wir hoffen, dass unser Datensatz auf Jahre hinaus eine Referenz für das Forschungsgebiet darstellt“, sagt Pizzi.

Datensatz erweitern, Nachwuchs ausbilden

Die Ergebnisse untermauern die Bedeutung des Referenzdatensatzes. Das nächste Ziel ist, ihn um weitere Strukturen und komplexere Eigenschaften, die mit fortschrittlicheren Funktionalen berechnet werden, zu erweitern. Und es gibt es noch eine weitere Herausforderung: Anstatt sich ausschließlich auf die Präzision der verschiedenen Codes zu konzentrieren, plant das Team, demnächst auch die Kosten in Bezug auf Zeit und Rechenleistung zu berücksichtigen. Dies würde anderen in der Wissenschaftscommunity dabei helfen, den wirtschaftlichsten Ansatz für ihre Berechnungen zu finden.

Parallel zur fachlichen Weiterentwicklung der Code-Verifizierungen hat sich bereits ein großes Konsortium gebildet, das sich nicht in erster Linie mit Molekülen oder Codes befasst. Es hat vielmehr die nächste Generation im Blick: „Wir müssen Doktoranden und Nachwuchswissenschaftler dafür sensibilisieren, wie wichtig die Validierung und Bewertung von DFT-Modellierungsergebnissen ist“, sagt Kühne. „Daher wird das neue Konsortium die Kompetenzen dieser jungen Menschen ausbauen, so dass sie in der Lage sind, künftig Code-Verifizierungsprozesse in ihre Forschungsprojekte zu implementieren. Die Vorteile liegen auf der Hand und umfassen ganz allgemein eine verbesserte Genauigkeit und zudem noch auf die gewünschte Präzision optimierte Rechenkosten.“

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