Wie Mikro- und Nanoplastik ins arktische Eis kommt
Umweltwissenschaftlerin Alice Pradel züchtet im Labor Eiskerne, um darin den Transport und die Anreicherung von Mikro- und Nanoplastik zu untersuchen
«Beat the Micro Bead» heisst eine 2012 initiierte Kampagne, mit dem Ziel, den Einsatz von Mikroplastik in Kosmetikprodukten zu reduzieren, um negative Auswirkungen auf Umwelt und Menschen einzudämmen. Für Alice Pradel war die Kampagne ein Weckruf. «Als junge Umweltwissenschaftlerin war ich schockiert, dass wir all diese Chemikalien in die Umwelt bringen, ohne uns dafür zu interessieren, was damit passiert», erinnert sie sich. Etwa zur gleichen Zeit machten Bilder vom «Great Pacific garbage patch» die Runde, vom riesigen Müllteppich inmitten des Pazifiks, der zu grossen Teilen aus Plastikabfällen besteht und zum Sinnbild für den anthropogenen Plastikexzess wurde. Im Jahr 2020 wurden weltweit rund 400 Millionen Tonnen Plastik produziert; neun Prozent davon wurden rezykliert, 12 Prozent verbrannt – und der gesamte Rest landet auf Mülldeponien, in der Umwelt oder im Meer.
Neue Eigenschaften durch Zerkleinerung
«Mich fasziniert an den Umweltwissenschaften, dass ich die Möglichkeit habe, laufend mehr über unsere Beziehung zur Umwelt zu lernen», sagt Pradel. «Sich um die Erde zu sorgen, bedeutet für mich auch, sie besser zu verstehen.» In ihrem Masterstudium an der Universität Rennes in Nordwestfrankreich hat sie sich darauf konzentriert, wie unterschiedliche Chemikalien, zum Beispiel Pestizide, in Böden und anderen porösen Medien angereichert werden. 2018 besuchte sie eine Vorlesung von Julien Gigault, Chemiker am französischen Forschungszentrum CNRS. Er erzählte den Studierenden davon, wie das Plastik in der Umwelt durch biotische und abiotische Prozesse in immer kleinere Partikel zerlegt wird und dadurch das Material neue Eigenschaften annimmt. Dass die Partikel durch diese Miniaturisierung in alle ökologischen Systeme vordringen können, hat Pradel fasziniert und schockiert.
Sie schrieb ihre Doktorarbeit daraufhin bei Gigault zur Frage, wie und wo sich Mikro- und Nanoplastik in porösen Materialien anreichert. Gegen Ende stellte sie erstaunt fest, dass sich auch im arktischen Meereis mittlerweile grosse Mengen an Mikroplastik angesammelt hatten. Studien hatten dies kurz zuvor belegt. Eis ist ebenfalls hochporös, es gibt Stellen höherer und geringerer Dichte, Hohlräume und mikroskopisch kleine Salzwasserflüsse zwischen den Eiskristallen. Dadurch findet zwischen dem Meerwasser und dem Eis ein ständiger Austausch statt – und dafür begann sich Pradel zunehmend zu interessieren. «Dass sich Mikro- und Nanopartikel zwischen den Eiskristallen ablagern können, ist hochproblematisch. Denn das sind genau jene Stellen, wo Mikroalgen am besten gedeihen», erklärt sie. Andere Forschende haben gezeigt, dass die Algen toxische Plastik-Zusatzstoffe aufnehmen und diese in die arktische Nahrungskette gelangen können.
2018 zeigte eine Studie, dass die kleinsten Mikroplastikpartikel am häufigsten im Meereis vorkommen. Mikroplastik ist definitionsgemäss kleiner als fünf Zentimeter, Nanoplastik sogar kleiner als ein Mikrometer. Mikroplastik-Partikel, die kleiner als zehn Mikrometer sind, können die Forschenden nicht mehr quantifizieren; sie stossen an analytische Grenzen. «Wir schliessen daraus, dass wir den grössten Teil des Plastiks im Meereseis weder sehen noch genau messen können», erklärt Pradel.
Postdoc für bessere Analytik
Während ihrer Doktorarbeit hat die Forscherin ein Laborverfahren entwickelt, um Meereis im Labor wachsen zu lassen. Seit April 2022 züchtet Pradel ihre Eiskerne im Rahmen eines ETH Postdoctoral Fellowships am Departement für Umweltnaturwissenschaften der ETH Zürich. Dafür kühlt sie Meerwasser in einer Glassäule mit einem Temperaturgradienten, der von 1 °C (unteres Ende) bis -5 °C Grad (oberes Ende) reicht. Nach 19 Stunden entsteht am oberen Ende ein rund zehn Zentimeter dicker Eiskern. Werden dem Meerwasser zu Beginn Mikro- und Nanoplastikpartikel beigemischt, kann Pradel nachvollziehen, wie die Partikel vom Wasser ins Eis gelangen und dort eingelagert werden.
Heute forscht Pradel in der Gruppe von Professorin Denise Mitrano, die sie an einer Konferenz kennengelernt hatte. Mitranos Gruppe befasst sich mit anthropogenen Partikeln und deren Toxizität und Auswirkungen auf die Umwelt. Sie hat unter anderem Analysemethoden entwickelt, mit denen sie Mikro- und Nanoplastik viel genauer messen kann. Das ergänzte Pradels Forschung optimal. Ein zentrales Problem bei der Quantifizierung von Mikro- und Nanoplastik besteht darin, den Kohlenstoff von natürlichen Materialien, wie Algen, von demjenigen im Plastik zu unterscheiden. Die Forscherinnen können dieses Problem umgehen, indem sie die Kunststoffpartikel mit anorganischen Tracern versetzen. Als Tracer nutzen sie Spurenelemente, die als Stellvertreter für die Kunststoffe dienen, und es ermöglichen, mit Standardmethoden der Umweltanalytik, darunter die Massenspektrometrie mit induktiv gekoppeltem Plasma, die Kunststoffpartikel im Eis effektiv zu messen.
Erste Arktisexpedition
Pradel kooperiert für ihre Analysen auch mit Forschenden der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Am WSL-Labor in Davos nutzt sie Eis-Tomografen, um ihre Eiskerne bei -15 °C zu analysieren. Die dabei entstehenden Bilder erlauben Aussagen über die Porosität und Struktur des Eises. «Das gibt uns wichtige Hinweise darauf, wo sich Mikro- und Nanoplastikpartikel anreichern», so Pradel. Die laufenden Experimente zeigen, dass Nanoplastikpartikel ähnlich durchs Eis transportiert werden wie im Meerwasser gelöste Salze. Beim Mikroplastik hingegen hängt die Anreicherung im Meereis stärker von der Partikeldichte ab.
Pradel ist überzeugt, dass ihre Experimente auch in anderen Forschungsgebieten neue Möglichkeiten eröffnen: «Durch die globale Erwärmung wird das gesamte arktische Meereis viel dynamischer. Es wird dünner, Schmelzprozesse laufen schneller ab und die Verteilung von Salzen und Partikeln im Eis beschleunigt sich.» Mit ihren Experimenten können solche Entwicklungen im Labor simuliert werden, ohne dass Forschende dafür in die Arktis fliegen müssen. «Das ist auch in Hinblick auf eine klimaschonende Umweltforschung sinnvoll.» Ganz ohne Expeditionen wird aber auch ihre Forschung nicht auskommen. Nächsten Winter wird Alice Pradel zum ersten Mal zum arktischen Ozean reisen, um den dortigen Plastik-Fussabdruck der Menschheit im Eis möglichst genau zu messen.