Chemischer Seiltrick auf molekularer Ebene

Mechanismusforschung hilft, wenn „Trial & Error“ versagt

29.04.2024

In den meisten industriellen chemischen Reaktionen verbinden sich Katalysatoren mit den Ausgangsstoffen und begleiten sie über Zwischenstufen zum Produkt. Dieser Weg wird in der Chemie als Reaktionsmechanismus bezeichnet, und der ist eine Art Blackbox: Niemand weiß zunächst, was auf molekularer Ebene geschieht. Wenn das Reaktionsergebnis im Labor unter den Erwartungen bleibt, greifen Chemiker erst einmal zu „Trial & Error“. Vereinfacht gesagt, verändern sie die Reaktion so lange, bis sie funktioniert. Zuweilen aber lohnt es sich, den Reaktionsmechanismus genauer unter die Lupe zu nehmen, wie Dr. Nora Jannsen am Rostocker Leibniz-Institut für Katalyse anhand einer Modellreaktion zeigt. Ihre Erkenntnisse, die sie im Rahmen ihrer Promotion gewonnen hatte, veröffentlichte sie jüngst im JACS, dem renommierten Journal of the American Chemical Society.

LIKAT/Gohlke

Symbolbild, Reaktionsgefäße im Labor.

Die Modellreaktion klingt unspektakulär und vor allem fremd für Laien-Ohren, erläutert Dr. Jannsen: „Benzotriazol, üblicherweise ein Korrosionsschutzmittel, wird mit einem Allen (die Betonung liegt hier auf der zweiten Silbe) mittels Rhodium-Katalysator zu einer neuen Substanz umgesetzt.“ Die heißt dann Allylbenzotriazol und lässt sich in Synthesen vielfältig nutzen. Entwickelt wurde die Reaktion von einer Forschergruppe um Prof. Breit an der Universität Freiburg.

Funktionelle Gruppe präzise gesetzt

Den Kollegen in Freiburg gelang es dabei, eine „funktionelle Gruppe“ präzise an eine ganz bestimmte Stelle im Benzotrialzol zu knüpfen. Und zwar dort, wo sich eine Stickstoff-Wasserstoff-Bindung (N–H) befindet, wie Dr. Jannsen erläutert.

„Funktionelle Gruppen“ sind als Molekülabschnitte deshalb wichtig, weil sie für die konkrete, z.B. pharmazeutische, Wirkung sorgen. „Eine solche Gruppe wollten die Freiburger im Benzotriazol exakt an die Stelle der N–H-Bindung bugsieren und dafür muss die N–H-Bindung weichen“, erläutert Dr. Jannsen weiter. Das haben die Kollegen auch geschafft. „Doch sie verstanden nicht, auf welcher Grundlage sie das geschafft haben.“

Das ist misslich. Denn erst mit einem Verständnis für das molekulare Geschehen lässt sich die Reaktion künftig gezielt anwenden und optimieren. Dies herauszufinden war Ziel der Dissertation von Nora Jannsen, die sie 2023 in Rostock erfolgreich verteidigt hat.

Idee: Katalysator bricht Bindung

Wie also läuft eine solche Reaktion ab? Start und Ziel sind bekannt. Bekannt ist für diese Reaktion auch, dass sich jedes einzelne Atom aus den Ausgangsstoffen später im Produkt wiederfindet, Chemiker nennen das eine „atom-ökonomische“ Reaktion. Das heißt, im Verlaufe der Reaktion muss der Wasserstoff aus der N–H-Bindung vom Benzotriazol auf den zweiten Ausgangsstoff, das Allen, übergehen.

Dr. Jannsen: „Die Freiburger dachten, dass der Katalysator die Stickstoff-Wasserstoff-Bindung aufbricht, also eine sogenannte oxidative Addition des Benzotriazols stattfindet. Rhodium-Katalysatoren sind bekannt für diese Art der Reaktion.“ Nora Jannsen prüfte die Idee, indem sie den Rhodium-Katalysator zunächst nur mit einem Ausgangsstoff, dem Benzotriazol, umsetzte. Proben aus dieser Reaktion isolierte sie für die Kernspinresonanzspektroskopie (NMR) und Röntgenkristallstukturanalyse. Das Resultat: „Die N–H-Bindung wird überhaupt nicht aufgebrochen. Das Benzotriazol bleibt völlig intakt, es lagert sich nur an den Katalysator an.“

Resultat: simple Koordination

Im weiteren entdeckte die Chemikerin, dass auch der zweite Ausgangsstoff, das Allen, an den Katalysator bindet. Und dort passiert nun Folgendes: „Die beiden Ausgangsstoffe treten direkt miteinander in Kontakt, und das Benzotriazol übergibt dem Allen gewissermaßen das Wasserstoffatom, welches auch als Proton bezeichnet wird. Der Katalysator hält die Ausgangsstoffe dabei lediglich fest, greift jedoch nicht direkt in diesen Schritt ein.“ Dieser Vorschlag wurde anschließend von Dr. Jannsen auch detailliert quantenmechanisch, also durch theoretische Modellierung des Reaktionspfades, untermauert.

Dass der Katalysator das Ganze so simpel bewerkstelligt, hat Nora Jannsen überrascht. Für Laien mag es ein bisschen nach chemischem Seiltrick klingen. Fachlich ist ein solcher Vorgang durchaus bekannt, er wird Protonierung genannt.

Dieser Vorgang hatte einen Vorteil. Dr. Jannsen: „Interessanterweise lassen sich bei Protonierungen die Reaktionsbedingungen durch den Zusatz einer weiteren Protonenquelle wesentlich verbessern.“ Es gelang ihr z.B. durch den Zusatz einer Art Co-Katalysator die Reaktionstemperatur von 80 Grad Celsius auf Raumtemperatur zu senken.

Viel hilft nicht immer viel

Und Nora Jannsen fand ebenfalls heraus, dass das Benzotriazol unter bestimmten Umständen den Katalysator auch blockieren kann. Das ist dann der Fall, wenn dieser Ausgangsstoff den Katalysator doppelt besetzt, so dass sein Reaktionspartner, das Allen, keinen freien Platz am Katalysator findet. Das lähmt die katalytische Aktivität und führt dazu, dass der Katalysator sich „verbraucht“. „Hier hilft es vermutlich, den Ausgangsstoff der Reaktion einfach sukzessiv zuzuführen, damit der Katalysator weniger damit in Kontakt kommt.“

Diesen Vorschlag für die weitere Arbeit der Freiburger Kollegen experimentell zu untermauern, hatte Nora Jannsen nicht mehr die Zeit. Sie arbeitet inzwischen als Postdoc an der Universität Oxford.

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