Im Röntgenblick: Neue Materialien für die Energiewende

Neues Verfahren entwickelt, um Materialien für die Wasserstoffindustrie zu testen

27.06.2024

Forschende des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY haben ein Verfahren entwickelt, um neue Materialien für die Wasserstoffindustrie sehr schnell zu testen und ihre Eigenschaften bis hinunter auf atomare Ebene zu analysieren. Als erstes haben sie damit sogenannte Hochentropie-Legierungen auf ihre Korrosionsbeständigkeit gegen Wasserstoff geprüft. Und herausgefunden, dass diese darin den herkömmlich in der Industrie verwendeten Legierungen überlegen sind.

DESY

Maxim Bykov und Konstantin Glazyrin an der Strahlführung P02.2 der Röntgenstrahlungsquelle PETRA III

Für das Verfahren nutzten die Forschenden um Erstautor Konstantin Glazyrin vor allem die Strahlführungen P02.2 und P61.2 an der Röntgenstrahlungsquelle PETRA III des DESY, die auf Wissenschaft unter Extrembedingungen spezialisiert sind. Dort luden sie Pulver-Proben verschiedener Legierungen in eine Diamantstempelzelle und setzten sie unter hohem Druck Wasserstoff aus, das mit einem Gaslader eingebracht wurde. Mithilfe der Pulverdiffraktions-Technik haben sie dann die Wechselwirkungen genau beobachtet. Das heißt: Mit der hochbrillanten Röntgenstrahlung von PETRA III analysierte Glazyrin kleinste Strukturveränderungen in der polykristallinen Materialprobe; anhand der Beugungsmuster der Strahlen ließen sich diese charakterisieren.

Als Studienobjekte hatte das Team Hoch-Entropie-Legierungen gewählt, und von diesen die sogenannte Cantor-Legierung aus Chrom, Mangan, Eisen, Kobalt und Nickel sowie zwei Legierungen der Platingruppe, die unter anderem Iridium, Osmium und Ruthenium enthalten. Diese Legierungen gelten als vielversprechende Materialien für den Energiesektor, wenn in den kommenden Jahren fossile Energieträger wie Erdöl, Erdgas und Kohle durch Wasserstoff ersetzt werden sollen.

Hochentropie-Legierungen sind Verbindungen aus mindestens fünf Elementen, deren Struktur auf atomarer Ebene sehr vielfältig – gewissermaßen „ungeordnet“ – ist. Der Begriff „Entropie“ bezeichnet den Grad der Unordnung in einem System. In den vergangenen Jahren erkennen Materialforschende immer mehr, dass entropische Metalllegierungen und auch Keramiken in vielerlei Hinsicht stabiler sind als herkömmliche Mischungen aus weniger Elementen. Edelstahl zum Beispiel ist eine Legierung aus Eisen, Kohlenstoff und Chrom. Erst mit mindestens fünf Elementen, die im Material homogen verteilt sind, würde daraus eine Hochentropie-Legierung.

„Dabei tritt die Entropie auf der mikroskopischen Ebene auf“, erklärt Konstantin Glazyrin. „Jedes Atom ist von verschiedenen andersartigen Atomen umgeben, und die entsprechend chaotische elektrische Struktur macht es Wasserstoffatomen offenbar schwer, anzudocken und dadurch das Material zu destabilisieren.“ Korrosion durch Wasserstoff – das ist ganz ähnlich wie beim Rosten von Metallen durch Kontakt mit Wasser und Sauerstoff – zersetzt das Material mit der Zeit.

Glazyrin hat also untersucht, wie die Cantor- und Platingruppen-Legierungen im Vergleich zu herkömmlichen Stahl- und Berylliumkupfer-Legierungen abschneiden, wenn sie mit Wasserstoff intensiv und dauerhaft in Kontakt kommen. Berylliumkupfer wird in der Wasserstoffindustrie häufig für Leitungen, Behältnisse und andere Anlagen eingesetzt. Es ist chemisch sehr widerstandsfähig und schlägt keinerlei Funken, was im Umgang mit hochentzündlichem Wasserstoff natürlich von Vorteil ist. „Allerdings ist Beryllium giftig und lässt sich daher schlecht recyceln“, gibt Glazyrin zu Bedenken. Schon aus diesem Grund sind alternative Materialien wünschenswert.

Die neuen Legierungen sind nicht toxisch, gut recyclingfähig, und in den Tests zeigten sie sich bei Raumtemperatur und erhöhtem Druck deutlich weniger anfällig für Wasserstoffkorrosion. „Quantifizieren lässt sich dieser Vorteil schlecht, weil er stark von den Einsatzbedingungen abhängt“, räumt Glazyrin ein. „Leider konnten wir nicht alle möglichen Bedingungen untersuchen.“ Die Studie könnte aber andere Gruppen anregen, weitere und spezialisiertere Messungen vorzunehmen. Denn sie zeigt, dass sich das lohnen sollte. Zumal es noch viele andere Hochentropie-Legierungen gebe, deren Einsatz sinnvoll sein könnte – zum Beispiel als Beschichtung von Anlagen, in denen Wasserstoff produziert, transportiert oder gespeichert wird. „Wie bei den Motorkomponenten und Kraftstoffsystemen unserer Autos auch“, so Glazyrin, „sollte uns daran gelegen sein, dass solche Anlagen möglichst lange halten – nicht nur aus Kosten- sondern auch aus Umweltgründen.“

Bislang weiß man über Hochentropie-Legierungen und ihre Eigenschaften noch nicht allzu viel. Sie werden erst seit 20 Jahren erforscht, und ihre Verarbeitung von einem Pulver etwa in eine Beschichtung ist noch sehr schwierig und teuer. Und so kommen nur nach und nach vorteilhafte Eigenschaften wie die Widerstandsfähigkeit gegen Wasserstoff ans Licht. Das neue Verfahren ist allerdings imstande, solche angewandte Forschung zu beschleunigen. „Experimente, die inklusive Vorbereitung sonst mehrere Tage bis Wochen in Anspruch genommen haben, können wir dank der Automatisierung der Experimentierkammer an der Strahlführung binnen eines Tages abwickeln“, sagt Glazyrin. Zudem sind sie sicherer als in herkömmlichen Druckkammern. Und es reichen schon winzig kleine Materialproben für aussagekräftige Ergebnisse. All diese Faktoren machen das Verfahren erheblich kostengünstiger als bisher übliche, vergleichbare Materialtests.

„Was noch hinzukommt, ist die langfristige Perspektive“, ergänzt Hanns-Peter Liermann, verantwortlicher Wissenschaftler an der PETRA III-Strahlführung P02.2. „Die Regierung investiert zurzeit viel Geld in die Erforschung der Kernfusion zur Energieerzeugung, weil sie in einer Zukunft mit erneuerbarer Energie auf Basis Wind, Sonne und Wasser für die Grundlast sorgen soll, wenn die Sonne mal nicht scheint oder der Wind nicht weht.“ Bei Kernfusion wird Wasserstoff zu Helium fusioniert und dabei Energie frei – ein Prozess, wie er auch im Innern der Sonne stattfindet. Anders als die Kernspaltung in Kernkraftwerken produziert er auch kaum hochradioaktiven Müll. Er erfordert aber eben jede Menge Wasserstoff, der bei enormen Druck- und Temperaturverhältnissen umgewandelt wird. Und auch dafür sind einerseits die Hochentropie-Legierungen interessant, um zum Beispiel die Reaktoren damit auszukleiden. Und zum anderen soll das neue Verfahren demnächst auch imstande sein, selbst die enormen Drücke und Temperaturen an den Wänden eines Fusionsreaktors zu simulieren: „Wenn PETRA III in den kommenden Jahren wie geplant zu PETRA IV aufgerüstet wird“, sagt Liermann, „planen wir dort eine Strahlführung, die auch dazu genutzt werden kann.“ Gezielte Experimente zur Entwicklung von Fusionsreaktortechnik sind dann möglich.

Jedenfalls hat Glazyrins neue Methode viel Potenzial, um schneller und kostengünstiger als bisher und systematisch nach neuen nachhaltigen Materialien mit bestimmten Eigenschaften zu suchen. Diese ersten Ergebnisse zu einzelnen Hochentropie-Legierungen könnten der Auftakt sein für weitere Forschung, um die Entwicklung dieser vielversprechenden Materialien voranzutreiben. „Mit unserer Grundlagenforschung schaffen wir Basis und Ausgangslage für weitere Studien“, sagt Liermann. „Und wenn potentielle Industriepartner darauf aufmerksam werden und mit uns gezielte Projekte durchführen, könnten wir vergleichsweise schnell aussagekräftige Ergebnisse erzielen. Zumal wir auch in die Software zur Auswertung der Daten viel investiert haben, die dies erleichtert.“

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