Wirkung von Chemikalienmischungen: Neurotoxische Effekte addieren sich

Studie demonstriert erstmals die toxikologische Relevanz von Chemikalienmischungen, wie sie im Menschen vorkommen

22.10.2024
Bodo Tiedemann

Automatisierte Pipettierplattform zur Vorbereitung und Messung der Plasmaproben und Chemikalienmischungen in Hochdurchsatz-Biotests am UFZ.

Chemikalien sind heute allgegenwärtig: Durch Nahrung, Luft oder über die Haut gelangen sie in unseren Körper. Doch wie wirken sich diese komplexen Chemikalienmischungen auf unsere Gesundheit aus? Ein Forschungsteam des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) belegte nun in einer im Fachmagazin Science veröffentlichten Studie, dass Chemikalien in komplexen Mischungen und in Konzentrationsverhältnissen, wie sie im Menschen gefunden werden, zusammenwirken. Selbst wenn die Konzentrationen der Einzelsubstanzen jeweils unterhalb der Wirkschwelle lagen, zeigten die Chemikalien in Mischung eine sich aufsummierende neurotoxische Wirkung. Für ihre Untersuchungen nutzten die Wissenschaftler:innen Blutproben von Schwangeren aus der am UFZ seit 2006 laufenden Mutter-Kind-Studie LiNA (Lebensstil und Umweltfaktoren und deren Einfluss auf das Neugeborenen-Allergierisiko).

UFZ

Verdeutlichung des "Something from nothing"-Phänomens. Die oft niedrigen Effekte der einzelnen in einer Probe nachgewiesenen Chemikalien summieren sich zu messbaren Mischungseffekten.

"In unserem Alltag sind wir verschiedensten Chemikalien ausgesetzt, die sich in unserem Körper verteilen und anreichern. Es sind hochkomplexe Mischungen, die sich auf Körperfunktionen und unsere Gesundheit auswirken können", sagt Prof. Beate Escher, Leiterin des UFZ-Departments Zelltoxikologie und Professorin an der Universität Tübingen. "Aus Umwelt- und Gewässerstudien ist bekannt, dass sich Effekte von Chemikalien addieren, wenn sie in niedrigen Konzentrationen in komplexen Mischungen vorkommen. Ob das auch im menschlichen Körper der Fall ist, war bislang noch nicht hinreichend untersucht - genau hier setzt unsere Studie an." 

Grundlage für die umfangreiche Forschungsarbeit bildeten über 600 Blutproben von Schwangeren aus der Leipziger Mutter-Kind-Kohorte LiNA, die vom UFZ seit 2006 koordiniert wird. Zunächst analysierten die Forschenden die in den Proben vorkommenden individuellen Chemikalienmischungen. "Wir wollten herausfinden, welche Chemikalien in welchen Konzentrationen im Blutplasma enthalten waren. Wir haben ein zweistufiges Extraktionsverfahren verwendet, um so unterschiedliche chemische Mischungen zu isolieren", sagt Georg Braun, Postdoktorand in der Arbeitsgruppe von Beate Escher und Erstautor der Studie. "Mithilfe massenspektrometrischer Untersuchungen haben wir nach 1.000 verschiedenen Chemikalien gesucht, von denen wir wussten, dass sie in der Umwelt vorkommen können, potenziell vom Menschen aufgenommen werden und relevant für die menschliche Gesundheit sein könnten. Davon konnten wir rund 300 Chemikalien in mehreren Plasmaproben quantifizieren." So erhielten die Forschenden Informationen über die Zusammensetzung und die Konzentrationsverhältnisse der in den 600 individuellen Plasmaproben vorhandenen Chemikalienmischungen. 

Mit einem Vorhersagemodell berechneten die Wissenschaftler:innen die neurotoxischen Wirkungen der Chemikalienmischungen. Um die Vorhersagen der Mischungseffekte experimentell zu prüfen, nutzten sie ein etabliertes zellbasiertes Testsystem aus menschlichen Zellen, das neurotoxische Wirkungen anzeigt. "Wir haben Einzelchemikalien sowie rund 80 verschiedene, selbst hergestellte Chemikalienmischungen in realistischen Konzentrationsverhältnissen untersucht. Auch die Extrakte der Plasmaproben wurden getestet", sagt Georg Braun. Die Ergebnisse waren eindeutig. "Die Laborexperimente bestätigten die Vorhersagen aus dem Modell: Die Effekte der Chemikalien addieren sich in komplexen Mischungen", sagt die Umwelttoxikologin Beate Escher. "Selbst wenn die Einzelkonzentrationen neurotoxisch wirkender Chemikalien so gering sind, dass sie jeweils unterhalb der Wirkschwelle liegen, zeigt sich in komplexen Mischungen mit vielen anderen Chemikalien ein Effekt auf nervenähnliche Zellen."

Doch was genau bedeuten diese Ergebnisse? "Mit unserer Studie konnten wir erstmals beweisen, dass das, was in Bezug auf die Effekte von Chemikalienmischungen in der Umwelt bekannt ist, auch für den Menschen gilt", sagt Escher. "In der Risikobewertung müssen wir daher unbedingt umdenken. Indikatorsubstanzen allein sind bei weitem nicht ausreichend. Wir müssen künftig in Mischungen denken lernen." Die UFZ-Umweltimmunologin und Leiterin der LiNA-Studie Dr. Gunda Herberth ergänzt: "Es wird immer deutlicher, dass viele Erkrankungen wie zum Beispiel Allergien, Störungen des Immunsystems, Fettleibigkeit oder die Entwicklung des Nervensystems mit der Chemikalienexposition im Mutterleib oder in der frühen Kindheit im Zusammenhang stehen." 

Das in dieser Studie vorgestellte Testverfahren - die Extraktion von Chemikalienmischungen aus menschlichen Proben und ihre Charakterisierung mit chemischer Analytik kombiniert mit zellbasierten Biotestsystemen - eröffnet neue Möglichkeiten, die Wirkungen von komplexen Chemikalienmischungen auf die menschliche Gesundheit zu erforschen. In zukünftigen Forschungsprojekten wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Testmethode verfeinern und die Wirkungen von Chemikalienmischungen auf weitere gesundheitlich relevante Endpunkte wie etwa Immuntoxizität erforschen. Darüber hinaus möchten sie mögliche Zusammenhänge zwischen der Chemikalienexposition und der Ausbildung von Entwicklungsstörungen bei Kindern aufdecken. Als Mitglieder des Deutschen Zentrums für Kinder- und Jugendgesundheit, einem deutschlandweiten Forschungsverbund von Universitätskliniken, Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, werden die UFZ-Forschenden in Zukunft mit zahlreichen Expertinnen und Experten aus den Bereichen Medizin und Epidemiologie zusammenarbeiten, um diese Methoden des effektbasierten humanen Biomonitorings in der Praxis anzuwenden.

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