Wie kann die Chemieindustrie defossilisiert werden?
Neuer Bericht präsentiert zehn Politikvorschläge für eine Zukunft mit erneuerbarem Kohlenstoff
Die europäische chemische Industrie, die ein Eckpfeiler der Produktion mit erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung und ein wichtiger Wegbereiter zahlreicher anderer Branchen ist, steht am Scheideweg. Die Branche befindet sich aufgrund des globalen Wettbewerbs, steigender Energiekosten und wachsender regulatorischer Anforderungen in einer akuten Krise. Einst führend bei Patenten und Produktion, liegt Europa heute hinter China und den USA zurück - ein deutliches Zeichen nachlassender Wettbewerbsfähigkeit. Die starke Nutzung von fossilem Kohlenstoff als Rohstoffbasis durch den Sektor (über 90%) verschärft diese Herausforderungen, da sie Abhängigkeiten schafft und die Kontrolle über den eigenen CO₂-Fußabdruck einschränkt – und das zu einem Zeitpunkt, an dem Europa mit der Notwendigkeit eines grünen Wandels ringt, um langfristigen Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Die Anzeichen einer fortschreitenden Deindustrialisierung der chemischen Industrie in der EU sind unübersehbar.
Jedoch bieten diese Herausforderungen auch eine Chance: die Defossilisierung des europäischen Chemiesektors durch die Umstellung auf erneuerbare Kohlenstoffquellen wie Biomasse, Kohlenstoffabscheidung und -nutzung (Carbon Capture and Utilisation, CCU) und Recycling. Diese Umstellung ist nicht nur eine ökologische Notwendigkeit, sondern auch ein strategischer Schritt zur Stärkung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit Europas im Weltmarkt. Doch regulatorische Hindernisse, der langsame Ausbau erneuerbarer Energien, die unzureichende Nachfrage nach nachhaltigen Produkten und die zurückhaltende Anwendung neuer Technologien bremsen den Fortschritt.
Um diese Hindernisse zu überwinden, hat die Renewable Carbon Initiative (RCI) einen umfassenden Bericht veröffentlicht, der zehn politische Handlungsempfehlungen zur beschleunigten Umstellung auf erneuerbaren Kohlenstoff in Rohstoffen und Materialien enthält. Expertinnen und Experten des nova-Instituts in Zusammenarbeit mit RCI-Mitgliedern entwickelten diese Vorschläge, um die Lücke zwischen Innovation und großflächiger Umsetzung zu schließen.
Eine Vision für die Defossilisierung: Wandel durch gezielte Maßnahmen vorantreiben
Nicht nur ein klares Bekenntnis der europäischen Chemieindustrie zur Defossilisierung, sondern auch ein handlungsfähiger politischer Rahmen sind erforderlich, um den Übergang zu erneuerbaren Kohlenstoffquellen zu unterstützen, zu lenken und zu fördern. Im Zentrum dieser Vision steht ein übergeordnetes Bekenntnis zur Defossilisierung – als Fundament für alle zukünftigen europäischen Maßnahmen.
Um eine konkrete Marktnachfrage für nachhaltige Produkte aus erneuerbarem Kohlenstoff zu schaffen, sollten verbindliche Ziele für die Verwendung von erneuerbarem Kohlenstoff in Chemikalien und Materialien festgelegt werden. Dies kann entweder durch neue Rechtsakte oder durch die Anpassung bestehender Regelwerke wie der Verordnung über Verpackungen und Verpackungsabfälle (PPWR), der Verordnung über Altfahrzeuge (ELVR) oder der Verordnung über die umweltgerechte Gestaltung nachhaltiger Produkte (ESPR) erreicht werden, sowie durch eine Reform des EU-Emissionshandelssystems (ETS) oder einer Anpassung eines alternativen europäischen Handelssystems für die Nutzung von Kohlenstoff (CUTS).
Damit der Übergang zu erneuerbaren Kohlenstoffquellen gelingt, muss die EU-Politik weiterhin den nachhaltigen Zugang zu erneuerbaren Kohlenstoffquellen ermöglichen und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit auf globaler und sektoraler Ebene sicherstellen.
Um dieses Ziel zu erreichen, enthalten die politischen Vorschläge der RCI konkrete Maßnahmen, um den Zugang zu mehr Abfall als Rohstoff zu erleichtern, den lokalen Zugang zu land- und forstwirtschaftlicher Biomasse und zur Kohlenstoffabscheidung sicherzustellen, eine Vorreiterrolle im internationalen Handel mit erneuerbaren Kohlenstoffrohstoffen einzunehmen, eine ausgewogene Regulierung zwischen energetischer und stofflicher Nutzung zur bestmöglichen Nutzung von Synergien zu nutzen, und die Verfügbarkeit von erschwinglicher erneuerbarer Energie zu erhöhen, z.B. durch günstige Rahmenbedingungen für das Erreichen der Defossilisierungsziele.
Überwindung der Umsetzungslücke, um Innovationen freizusetzen
Die Umstellung auf erneuerbaren Kohlenstoff bedeutet nicht nur ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch die Sicherung der industriellen Zukunft Europas und ihrer globalen Wettbewerbsfähigkeit in einer sich rasch wandelnden Welt. Durch das Einnehmen der Vorreiterrolle bei erneuerbaren Kohlenstofftechnologien kann die EU wirtschaftliche Vorteile erschließen und ihr Innovationspotenzial freisetzen und gleichzeitig ihre Klimaneutralitätsziele vorantreiben.
Die Förderung der Defossilisierung und die Unterstützung des Übergangs zu erneuerbaren Kohlenstoffquellen schafft einen umfassenden und verlässlichen Rahmen für die Transformation des Chemie- und Materialsektors – insbesondere zur Schließung der Umsetzungslücke zwischen Innovation und großskaliger Produktanwendung.
Wie es im EU-Kompass zur Wettbewerbsfähigkeit heißt: „Um die Wirtschaft auf eine saubere Produktion und Kreislaufwirtschaft umzustellen, muss die EU Leitmärkte entwickeln und politische Maßnahmen ergreifen, um Vorreiter zu belohnen“. Die politischen Vorschläge der RCI stehen im Einklang mit dieser Vision, indem sie die wichtigsten Herausforderungen benennen und praktikable Lösungen anbieten.